Der Nahostkonflikt befindet sich an einem kritischen Wendepunkt. Seit dem 1. Oktober 2024, als Israel eine Bodeninvasion im Süden des Libanon begann und wenige Stunden später mehr als 180 iranische Raketen auf israelisches Gebiet abgefeuert wurden, hat sich die Lage dramatisch verschärft. Während der Krieg im Gazastreifen weitergeht, wächst die Angst vor einer Ausweitung des Krieges zu einem flächendeckenden regionalen Konflikt. Zehn ausgewiesene Experten haben ihre Analysen geteilt, um die Hintergründe, möglichen Entwicklungen und strategischen Ziele in der Region besser zu verstehen.
Ihre Einsichten zeichnen ein vielschichtiges Bild von Chancen und Risiken, das die Zukunft des Nahen Ostens maßgeblich prägen könnte. Israels langfristige Ziele im Libanon sind ambitionierter geworden. Während das ursprüngliche Ziel darin bestand, die schiitische Miliz Hisbollah zu schwächen, geht die israelische Führung heute von der reinen Schwächung hin zur dauerhaften Neutralisierung dieser Gruppierung. Die aktuellen militärischen Aktionen gelten nicht nur dem Schutz der nordisraelischen Bevölkerung, die durch ständige Raketenangriffe und den Beitritt der Hisbollah zum Kampf mit der Hamas nach dem 7. Oktober vertrieben wurde, sondern zielen darüber hinaus teilweise auf eine ideologisch geprägte Vision einer territorialen und sicherheitspolitischen Neuordnung.
Diese ökonomischen und politischen Kräfte vermischen sich mit religiösen und kosmischen Vorstellungen, was die Lage schwer berechenbar macht. Doch trotz der schweren Verluste, die die Hisbollah erlitten hat, wird wohl niemand davon sprechen können, dass diese Bewegung vollständig aus dem Libanon verschwinden wird. Das Parallele zu Israels Invasion im Libanon 1982 wird nicht zufällig gezogen. Damals hatten ähnliche Strategien kurzfristigen Erfolg, doch langfristig blieben die Konsequenzen ausgesprochen schwierig für die Bevölkerung im Grenzgebiet und die israelische Sicherheit. Die derzeitige Lage erfordert von Israel daher vor allem eine Fokussierung auf kurzfristige Stabilität, damit die rund 60.
000 Menschen, die im Norden Israels leben und vor der Gewalt fliehen mussten, sicher zurückkehren können. Diese Entwicklungen haben auch Auswirkungen auf die Machtverhältnisse in der gesamten Nahost-Region. Während noch keine merkliche Grenzverschiebung eingetreten ist, zeichnen sich Verschiebungen in der Machtbalance ab. Die sogenannten Iran-geführten Achsen, bestehend aus Hisbollah und Hamas, scheinen momentan taktisch geschwächt, während Israel an Boden gewinnt. Doch die Verschiebung dieser Balance ist ein langwieriger Prozess, bei dem sich strategische Vorteile möglicherweise erst in der Zukunft manifestieren werden.
Die gegenseitige Abschreckung, die jahrelang zwischen Iran und dessen Proxy-Gruppen auf der einen Seite und Israel auf der anderen bestand, wurde am 7. Oktober grundlegend erschüttert. Israel versucht als Reaktion darauf, die Oberhand zu gewinnen, doch es ist zu früh, um abschließend zu bewerten, welche langfristigen Auswirkungen dies haben wird. Insbesondere die Lage im Süden des Libanon könnte entscheidend sein – eine mögliche Neuerrichtung einer Form von israelischer Kontrolle oder Einflussnahme in diesem Gebiet könnte den regionalen Status quo dauerhaft verändern. Eine weitere zentrale Frage betrifft das iranische Atomprogramm und die Möglichkeit, dass die jüngste Eskalation die Ambitionen für einen nuklearen Sprengkopf verstärkt.
Iran hat durch den Verlust der Effektivität von Hamas und Hisbollah als konventionelle Abschreckungsinstrumente offenbar einen Anreiz, die Entwicklung von Nuklearwaffen als neuen strategischen Faktor voranzutreiben. Die israelische Geheimdienstlandschaft ist in der Region hochentwickelt, doch die Frage, wann und wie Israel von einer iranischen Nuklearentwicklung erfahren würde, bleibt offen. Israel bewertet die konventionellen militärischen Fähigkeiten Irans weiterhin als unterlegen und verweist gerne auf die bislang stark eingeschränkten Möglichkeiten des Gegners. Dennoch bleibt die nukleare Komponente ein zentrales Unruhepotenzial – nicht zuletzt, weil die atomare Option als eines der wenigen verbleibenden wirklichen Machtinstrumente im Arsenal Irans gilt. Das innenpolitische Spektrum im Iran ist hierbei nicht einheitlich.
Neben Hardlinern, die den Kampf gegen Israel als existenzielle Mission betrachten, gibt es pragmatischere Stimmen, die wenig Interesse an einer Eskalation eines Palästinakrieg sehen. Doch der Druck zur Sicherung und Ausbau des Nuklearprogramms dürfte angesichts des gegenwärtigen militärischen Ungleichgewichts innerhalb der iranischen Führung zunehmen. Für Israel bedeutet die Ausweitung des Konflikts eine schwierige strategische Lage. Während die militärischen Anstrengungen im Gazastreifen bereits seit einem Jahr andauern und erhebliche Zerstörungen bei Hamas-Truppen zur Folge hatten, wird Israel zunehmend daran gehindert, seine Kriegsziele zu erreichen. Die Herausforderung liegt weniger in der Ausbreitung der Kampfhandlungen als in der fehlenden politischen Strategie für eine zivile Herrschaft nach einem militärischen Sieg.
Ohne eine anerkannte und palästinensische Seite, die als Regierung agiert und von der internationalen Gemeinschaft akzeptiert wird, bleibt der Gazastreifen ein permanentes Sicherheitsrisiko und ein militärischer Sandkasten für zukünftige Konflikte. Israels Rolle wird dadurch komplexer, da die politische Vision für eine Lösung des Konflikts fehlt. Der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanjahu scheint derzeit auf Dauerkriegsführung zu setzen, die ihm innenpolitische Stabilität bei gleichzeitigem Rückhalt der westlichen Welt verschafft, was Mittelfristig jedoch zu einem zermürbenden Stillstand führen kann. Ein weiterer Faktor, der die Dynamik im Nahen Osten maßgeblich beeinflussen könnte, ist der Ausgang der US-Präsidentschaftswahl im November 2024 und die daraus resultierende US-Politik gegenüber Israel. Historisch gesehen haben US-Präsidenten erheblichen Einfluss auf die Luftoperationen und strategischen Entscheidungen Israels, auch wenn dieser Einfluss nicht immer genutzt wurde.
Während die Vizepräsidentin Kamala Harris innerhalb der Demokratischen Partei anders positioniert ist als Amtsinhaber Joe Biden, gibt es kaum Anzeichen für eine grundsätzliche Änderung der US-Unterstützung für Israel. Bedeutungsvoll sind auch die innerdemokratischen Debatten über Waffenlieferungen und mögliche Embargos gegen Israel, die jedoch derzeit noch Minderheiten vertreten. Auf der anderen Seite steht Ex-Präsident Donald Trump, der eine pro-netanjahu Haltung einnimmt, aber gleichzeitig eine Rolle als Verfechter antimilitaristischer US-Engagements hat. Letztlich bleibt die Frage offen, ob eine US-Regierung gewillt ist, die politische und wirtschaftliche Macht, die durch milliardenschwere Hilfsgelder an Israel besteht, als Druckmittel zu nutzen, um eine diplomatische Lösung zu erzwingen. Die bisherigen Bewertungen der Experten zeichnen kein zuversichtliches Bild für eine baldige Deeskalation.
Der militärische Apparat Israels und die politische Führung dürften daran festhalten, die vermeintliche Chancen der aktuellen Offensive zu nutzen und nicht aus strategischer Schwäche einen sofortigen Rückzug zu akzeptieren. Dennoch zeigen sich zwei potenzielle Auswege aus dem Teufelskreis: das Erzielen eines Waffenstillstands in Gaza, der eine Rückzugsordnung schafft und die humanitäre Hilfe erleichtert, verbunden mit einer palästinensischen Regierung, die von den Betroffenen selbst anerkannt wird, sowie ein Waffenstillstand im Libanon mit entsprechenden Sicherheitsvereinbarungen, die den Raketenbeschuss durch Hisbollah beenden könnten. Voraussetzung dafür wäre allerdings eine Bereitschaft zur politischen Anerkennung und zu Verhandlungen – etwas, das auf israelischer Seite unter der aktuellen Regierung als unwahrscheinlich gilt. Nur mit einem grundlegenden Wandel der iranischen Politik, insbesondere hinsichtlich des Nuklearprogramms und der Unterstützung von Milizen wie Hisbollah und Hamas, könnte ein breiteres Friedensmodell entstehen. Die Hoffnung auf solche Änderungen erscheint derzeit gering.
Auch außenpolitisch fehlt bislang ein klarer globaler Führungsanspruch, der die Dynamiken vor Ort lenken und zu einer Beruhigung der Lage beitragen könnte. Die Rolle der Vereinigten Staaten und anderer westlicher Mächte bleibt dabei immens wichtig, doch bisher dominieren Unsicherheit und politische Zurückhaltung. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die aktuelle Eskalation im Nahen Osten die Friedensperspektiven erheblich erschwert und die Risiken einer regionalen Ausweitung des Krieges deutlich erhöht. Die komplexen Interessen zwischen Israel, Libanon, Iran und den palästinensischen Gruppen sowie die geopolitischen Verflechtungen mit Großmächten machen schnelle Lösungen unwahrscheinlich. Für die betroffenen Bevölkerungen bleibt die Hoffnung auf Stabilität und Sicherheit ein ferner Traum, dessen Erfüllung stark von der Bereitschaft internationaler Akteure zu echten diplomatischen Anstrengungen abhängt.
Nur eine Kombination aus strategischer Zurückhaltung, intensiven Verhandlungen und einem Umdenken in der regionalen Sicherheitsarchitektur kann langfristig wieder Frieden und Sicherheit im Nahen Osten gewährleisten.