In der kleinen Stadt Wemding in Bayern entsteht seit dem Jahr 1993 ein außergewöhnliches Kunstprojekt, das die Zeit in eine monumentale Skulptur übersetzt – die sogenannte Zeitpyramide. Dieses öffentliche Kunstwerk, dessen Bau sich über fast 1.200 Jahre erstrecken soll, stellt eine bemerkenswerte Symbiose aus Kunst, Kultur, Geschichte und Wissenschaft dar. Die Zeitpyramide ist weit mehr als nur ein Bauwerk; sie regt zum Nachdenken über den Verlauf der Zeit und unser Verhältnis zu langen Zeiträumen an, die das menschliche Vorstellungsvermögen oft übersteigen. Das Konzept hinter der Zeitpyramide wurde vom lokalen Künstler Manfred Laber entworfen, der mit diesem Kunstwerk den 1.
200-jährigen Geburtstag der Stadt Wemding feiern wollte. Statt ein typisches Denkmal zu schaffen, entschied sich Laber für ein Projekt, dessen Vollendung für viele Generationen in der Zukunft liegt, genau im Jahr 3183. Ein ganzes Kunstwerk soll somit erst in über einem Jahrtausend vollständig werden, wobei alle zehn Jahre ein einzelner Betonblock hinzugefügt wird. Diese ungewöhnliche Herangehensweise macht das Werk nicht nur zu einem Symbol für die so lange historische Kontinuität, sondern auch zu einer greifbaren Darstellung für das Gefühl langfristiger Zeitlichkeit, das im heutigen, schnelllebigen Alltag kaum noch wahrgenommen wird. Es ist eine nichts weniger als ein beeindruckendes Zeitkunstwerk, das in seiner Langsamkeit den Menschen erdet und sie einlädt, ihr Verhältnis zur Zeit zu überdenken.
Der Standort der Zeitpyramide wurde sorgfältig gewählt. Sie steht auf dem Robertshöhe, einem kleinen Hügel im Norden von Wemding, wo die Basis aus einem großen Betonfundament besteht. Die Pyramide soll am Ende eine Höhe von 9,2 Metern erreichen und im Laufe der Jahrhunderte aus genau 120 Betonblöcken bestehen. Jeder Block misst 1,2 mal 1,2 Meter in der Grundfläche und ist 1,8 Meter hoch. Zwischen den Blöcken sind Abstände von 0,6 Metern vorgesehen, dadurch entsteht eine geometrisch saubere, landschaftlich markante Form.
Der Bau folgt einem festen Zeitplan: Seit dem ersten gesetzten Block 1993 wird alle zehn Jahre ein weiterer hinzugefügt. Bis heute sind vier Blöcke gesetzt, der fünfte folgt 2033. Jede Bauphase entspricht somit einer Generation von Menschen, was der Pyramide einen lebendigen Charakter verleiht und das Engagement der Gemeinde über mehrere Jahrhunderte sicherstellt. Der Künstler selbst hat mit dem Bau begonnen, ist inzwischen jedoch verstorben – sein Vermächtnis lebt im kontinuierlichen Fortschreiten des Projekts weiter. Technisch gesehen ist die Errichtung der Zeitpyramide eine anspruchsvolle Herausforderung.
Obwohl die ersten Blöcke noch ohne größere technische Hilfsmittel gesetzt werden konnten, werden für die oberen Schichten in Zukunft Kräne und spezifische Konstruktionen nötig sein, um die Betonblöcke sicher zu platzieren. Zum Beispiel wird ab der zweiten Schicht, die 36 Blöcke umfasst, die Stapelung notwendig, wofür entsprechende Hebe- und Gerüsttechnik gebraucht wird. Diese Entwicklung verdeutlicht eine spannende Verbindung von traditioneller Handwerkskunst und moderner Bauweise. Von großer Bedeutung ist die Materialwahl: Beton wurde als Hauptstoff verwendet, vor allem wegen seiner robusten und langlebigen Eigenschaften. Zwar ist die Standzeit von Beton bei freier Bewitterung normalerweise auf einige Jahrzehnte bis Jahrhunderte begrenzt, mit entsprechender Pflege kann die Lebensdauer aber bedeutend verlängert werden.
Wie Laber schon vermutete, könnten kommende Generationen das Material gegebenenfalls anpassen – je nach den damals verfügbaren Ressourcen – sodass sich die Pyramide über die Jahrhunderte weiterentwickeln und verändern kann. Die Zeitpyramide steht exemplarisch für ein ungewöhnliches künstlerisches Verständnis, das Zeit als aktiven und performativen Faktor begreift. Dadurch unterscheidet sich das Projekt deutlich von klassischen Skulpturen oder Denkmälern, die eigentlich statisch sind. Das schrittweise Wachsen und das langsame Fortschreiten über mehr als ein Jahrtausend machen die Zeitpyramide zu einem lebenden Kunstwerk, das die Zeit selbst in den Mittelpunkt stellt. Parallel zum Bau ist das Projekt ein identitätsstiftendes Element für Wemding geworden.
Die Stadtverwaltung und die Einwohner beteiligen sich aktiv an der Pflege und Organisation des Bauprozesses. Das Kunstwerk verbindet so nicht nur die Vergangenheit mit der Zukunft, sondern schafft auch einen sozialen Raum, in dem sich die Gemeinschaft erleben und definieren kann. Dieser generationsübergreifende Ansatz ist selten und hebt die Zeitpyramide als besonderes Kulturprojekt hervor. Trotz der fortschrittlichen Idee ist das Projekt nicht frei von mathematischen und planerischen Herausforderungen gewesen. So existiert etwa ein sogenannter „Off-by-one“-Fehler, der sich daraus ergibt, dass der erste Block unmittelbar zu Beginn des Projekts gesetzt wurde.
Daraus folgt, dass die Gesamtdauer der Bauzeit 1190 Jahre beträgt, obwohl die Widmung 1200 Jahre nennt. Dieser kleine Fehler ist weniger tragisch, aber für Mathematikliebhaber ein interessantes Detail, das zeigt, wie sogar in so langfristigen Projekten die Präzision eine Rolle spielt. Neben seinem künstlerischen und kulturellen Wert regt die Zeitpyramide auch zu einer philosophischen Auseinandersetzung mit der menschlichen Wahrnehmung von Zeit an. Wie oft betrachten wir die Zukunft oder die Vergangenheit als abstrakte, schwierige Größeneinheiten, die uns gedanklich entfremdet sind? Das Projekt hilft dabei, Zeiträume fassbar zu machen und die Geduld sowie Kontinuität zu feiern – Eigenschaften, die in der heutigen Gesellschaft oft zu kurz kommen. Die Zeitpyramide hat auch internationale Aufmerksamkeit auf sich gezogen.
Medien und Kulturliebhaber sind fasziniert von der Idee, Jahrhunderts und Jahrtausende zu verbinden. Sie zeigt beispielhaft, wie Kunst über die eigene Lebenszeit hinaus wirken kann und schafft eine Brücke zwischen Generationen, die ansonsten wenig miteinander zu schaffen haben. Erwähnenswert sind auch Parallelen zu anderen Langzeitprojekten, wie der Aufführung von John Cages Werk „ASLSP“ (As Slow As Possible) oder dem Langzeit-Musikprojekt „Longplayer“, welche ebenfalls Zeit als zentrales Motiv haben. Mit jedem betonierten Block wächst somit nicht nur das physische Bauwerk, sondern auch die Geschichte und der symbolische Wert, der über alle Generationen hinweg vermittelt wird. Die Pyramide ist in dieser Hinsicht ein Kraftwerk der Erinnerung und der Hoffnung zugleich.