Das Koma, ein Zustand tiefen, anhaltenden Unbewusstseins, stellt eine der größten Herausforderungen der modernen Medizin dar. Jedes Jahr treffen Tausende Menschen aufgrund von Schlaganfällen, Hirnverletzungen oder anderen schwerwiegenden Ereignissen in eine geistige Umnachtung, aus der sie nicht von alleine erwachen. Dabei sind viele der Betroffenen physisch am Leben, befinden sich aber in einem Zustand, der die Grenzen von Person und Bewusstsein verschwimmen lässt. Der Neurowissenschaftler Daniel Toker hat sich dieser Problematik angenommen und widmet sich mit seinem Forscherdrang der Frage, wie man Patienten aus der Gefangenschaft des Unbewusstseins befreien kann. Sein Ansatz verbindet neueste technologische Methoden, tiefgehende neurobiologische Einsichten und innovative Therapiekonzepte.
Von seinen Studien mit Gehirnorganoiden über computergestützte Simulationen bis hin zu potenziellen Medikamentenversuchen zeigt Toker, wie multidisziplinäre Forschung das Verständnis und die Behandlung von Bewusstseinsstörungen revolutionieren könnte. Das persönliche Erlebnis eines tragischen Ereignisses hat Tokers Forscherdrang geprägt. Während eines Musikfestivals wurde er Zeuge, wie ein junger Mann nach einem unglücklichen Kopfsprung in seichtem Wasser bewusstlos im Wasser treiben blieb. Trotz sofortiger Wiederbelebungsmaßnahmen war der Schaden unermesslich, der junge Mann war geistig verloren. Dieses einschneidende Erlebnis, bei dem ein Mensch scheinbar von seinem eigenen Bewusstsein getrennt wurde, führte bei Toker zu einer tiefen Reflexion über die Natur von Bewusstsein und Unbewusstsein – einer Reflexion, die ihn letztlich antrieb, das Leiden vieler anderer zu verhindern.
Das Studium von Bewusstsein ist ein schwer fassbares und viel diskutiertes Gebiet der Wissenschaft. Während Philosophen seit Jahrhunderten über die Rätsel unserer inneren Wahrnehmung debattieren, sucht Toker nach den konkreten neurobiologischen Grundlagen von Unbewusstheit. Gerade dieser Gegenspieler des Bewusstseins ist aus seiner Sicht besser greifbar und erforschbar, da er sich durch messbare Veränderungen im Gehirn ausdrückt. Die Zustände des Unbewusstseins, die sich in tiefem Schlaf, Narkosen, epileptischen Anfällen und eben im Koma manifestieren, zeigen charakteristische elektronische Muster im Gehirn. Diese Muster gilt es zu entschlüsseln, damit aus der bloßen Beobachtung mögliche Therapien entstehen können.
In seinem Labor an der renommierten Universität UCLA nutzt Toker eine Vielfalt von Methoden, um den Zustand der Bewusstlosigkeit auf molekularer und systemischer Ebene zu verstehen. Ein besonders spannendes Forschungsfeld sind die sogenannten Gehirnorganoide – kleine, im Labor gezüchtete Hirnstrukturen, die aus Stammzellen gewonnen werden. Sie bilden gewisse neuronale Funktionen in vereinfachter Form nach und ermöglichen es, das komplexe Zusammenspiel von Nervenzellen unter kontrollierten Bedingungen zu studieren. Durch gezielte Manipulationen können Forscher simulieren, wie eine Gehirnaktivität während eines Komas aussieht. Diese Modelle bieten die Möglichkeit, potenzielle Medikamente oder therapeutische Ansätze zu testen, ohne direkt am Patienten experimentieren zu müssen.
Neben den biologischen Modellen setzt Toker auch auf fortschrittliche KI-Systeme. Durch den Einsatz von Deep-Learning-Algorithmen werden riesige Datenmengen aus unterschiedlichen Hirnregionen analysiert, um Bewusstseinszustände von komatösen und wachen Gehirnen zu unterscheiden und vorherzusagen. Diese sogenannten in-silico-Modelle erlauben es, unterschiedliche Hirnstimulationen theoretisch zu simulieren und zu erforschen, wie solche Interventionen den Bewusstseinszustand beeinflussen können. Dieses Vorgehen könnte künftig dabei helfen, gezieltere und effektivere Behandlungen bei Patienten mit Bewusstseinsstörungen zu entwickeln. Eine der aufsehenerregendsten Entwicklungen innerhalb von Tokers Arbeit ist die Entdeckung von neuen potenziellen Arzneistoffen, die das Bewusstsein „wecken“ könnten.
Mithilfe einer eigens programmierten künstlichen Intelligenz analysierte sein Team molekulare Strukturen verschiedenster Medikamente, um solche zu identifizieren, die eine Wirkung bei Bewusstseinsstörungen entfalten könnten. Überraschenderweise zeigte das Diabetesmedikament Saxagliptin eine herausragende Position in diesen Vorhersagen. Saxagliptin hemmt das Enzym DPP-4, das verschiedene Gehirnprozesse beeinflusst, die mit der Regulation von Bewusstsein in Zusammenhang stehen. Um die theoretischen Erkenntnisse zu validieren, prüfte Toker medizinische Daten von Komapatienten an UCLA. Dabei fiel auf, dass Patienten, die zum Zeitpunkt ihres Komas zufällig Saxagliptin oder ähnliche Wirkstoffe wie GLP-1-Analoga einnahmen, statistisch gesehen häufiger aus dem Koma erwachten als jene ohne solche Medikamente.
Dieser unerwartete Zusammenhang eröffnet einen vielversprechenden neuen Pfad in der Behandlung von Bewusstseinsstörungen, da die bisher verfügbaren Medikamente oft nur begrenzte oder vorübergehende Verbesserungen erzielen konnten. Trotz der wissenschaftlichen Fortschritte ist der Weg zu einer breiten klinischen Anwendung noch weit. Für Toker stellt das enorme finanzielle Risiko eine große Herausforderung dar, denn die Forschung in diesem Bereich erhält kaum Unterstützung von der Pharmaindustrie oder staatlichen Förderprogrammen. Klinische Studien mit ausreichend vielen Komapatienten sind teuer und komplex, doch sie sind unabdingbar, um die Wirksamkeit eines solchen Medikaments umfassend zu überprüfen und potenzielle Nebenwirkungen zu verstehen. Doch für Toker überwiegt die Motivation, denen zu helfen, die hilflos in ihrem eigenen Körper gefangen sind.
Das soziale und ethische Gewicht von Bewusstseinsstörungen ist enorm. Patienten im Koma oder in vegetativen Zuständen sind oft für Jahrzehnte auf intensive Pflege und Unterstützung angewiesen. Ihre Angehörigen erleben eine quälende Zwischenwelt, in der Hoffnung und Verzweiflung dicht beieinanderliegen. Die Forschung an neuen Behandlungsmöglichkeiten könnte nicht nur medizinischen Fortschritt bringen, sie hat auch das Potenzial, dem gesellschaftlichen Umgang mit schwerstkranken Menschen neue Perspektiven zu eröffnen. Daniel Tokers Arbeit steht am Schnittpunkt von Neurowissenschaft, KI, Medizin und Ethik.