Ich wuchs allein im Heim auf – warum hat mir niemand gesagt, dass ich Geschwister hatte? In einer Welt, in der die Suche nach Identität und Zugehörigkeit für viele von uns von zentraler Bedeutung ist, wird die Geschichte von Ashley John-Baptiste, einem ehemaligen Pflegekind, der die Entdeckung seiner Geschwister gemacht hat, besonders berührend. Aufgewachsen in einem Pflegeheim, hatte Ashley immer geglaubt, ein Einzelkind zu sein. Doch eines Tages erhielt er eine Nachricht, die sein Leben für immer verändern sollte. Ein unbekannter Mann stellte sich als sein älterer Bruder vor und öffnete damit eine Tür zu einer Vergangenheit, die Ashley nie kannte. Ashley wurde als Kleinkind in die Pflege gegeben und verbrachte seine Jugend in verschiedenen Pflegefamilien und einem Wohnheim in Südost-London.
Diese ständigen Veränderungen empfand er als eine Art dunkle Wolke der Ablehnung, die ihn begleitete. Ohne das Gefühl von Familie oder Zugehörigkeit war es für ihn eine isolierende Kindheit. Er traf seine leibliche Mutter im Alter von zehn Jahren, doch von seinem Vater wusste er nichts. Ashley fragte sich oft, warum er nicht adoptiert wurde und ob es jemals eine Möglichkeit dafür gegeben hätte. Den ersten Hauch von Brüderlichkeit erlebte er im Wohnheim, aber die Beziehungen zu den anderen Kindern waren instabil.
Ständige Umzüge und die Aussicht, dass man jederzeit von Freunden und „Familienmitgliedern“ getrennt werden konnte, ließen keine langfristigen Bindungen zu. In einem Alter von nur sieben Jahren warf eine sogenannte „Liebesgeschichte“-Sitzung seine Sicht auf die eigene Identität auf den Kopf. Ein Sozialarbeiter erklärte ihm, dass er ein Einzelkind sei. Die Entdeckung, dass er Geschwister hatte, kam erst in seinen mid-20ern. Ein Mann schrieb ihm über Facebook und offenbarte ihm, dass er sein Bruder war.
Ashley beschrieb seine Verwirrung und das Gefühl, dass sein ganzes Leben auf den Kopf gestellt wurde. Sie hatten denselben Vater, doch unterschiedliche Mütter und lebten in derselben Gegend, ohne es jemals gewusst zu haben. Dieses zufällige Treffen führte zu einem Austausch von Nachrichten, der jedoch nie zu einem persönlichen Treffen führte. In den nächsten Jahren verloren sie den Kontakt. Erst im Jahr 2020, als Ashley mit seinem Neugeborenen eine Untersuchung im Krankenhaus hatte, begegnete er seinem Bruder zufällig.
Dieser Moment war ein Wendepunkt für ihn. Trotz der langen Zeit, die sie nichts voneinander gehört hatten, fühlte es sich an, als würden sie sich schon immer kennen. Ashley stellte seinen Bruder seiner Tochter vor und das Paar machte ein Foto – ein Bild, das für Ashley mehr bedeutete, als er je hätte erahnen können. Die Verbindung, die er mit seinem Bruder spürte, führte ihn dazu, über die Zeit in der Pflege und die Bedeutung von Geschwistern nachzudenken. Hätte er die Chance gehabt, von klein auf mit seinen Geschwistern in Kontakt zu bleiben, wäre sein Leben vielleicht ganz anders verlaufen.
Der Wunsch, eine solche Unterstützung in seiner Kindheit zu haben, wurde für Ashley zu einem wichtigen Gedanken. Während seiner Zeit als Pflegekind hielt ihn nichts davon ab, jede neue Familie und Umgebung zu akzeptieren, aber der Verlust des Kontakts zu seinen Geschwistern war ein schmerzlicher Verlust, den er erst Jahre später vollständig verstand. Ashley wandte sich an seine damalige Sozialarbeiterin, die ihn zwischen seinem 15. und 18. Lebensjahr betreute.
Sie war schockiert über die Neuigkeiten von seinem Bruder. Es stellte sich heraus, dass in den Akten keine Informationen über seine Geschwister vermerkt waren. Diese Enthüllung veranlasste ihn, grundlegende Fragen über seine Identität und Familie zu stellen. War er jemals für eine Adoption in Betracht gezogen worden? Wie könnte sein Leben verlaufen sein, wenn er in einer stabilen Familie aufgewachsen wäre? Die Antworten, die er erhielt, waren erschütternd. Er hatte tatsächlich die Chance auf eine Adoption, aber die Paare, die ihn adoptieren wollten, wurden selbst schwanger und zogen sich zurück.
Ashley war verwirrt und verärgert. Warum war er nie über die Existenz seiner Geschwister informiert worden? Für ihn war es eine Krise der Identität und er fragte sich, wie viele andere Pflegekinder sich mit ähnlichen Fragen quälen. Einen weiterführenden Blick auf die Situation von Geschwistern im Pflegewesen gab die Recherche von Ashley für seine Dokumentation „Split Up In Care: Life Without Siblings“. Diese Erhebung brachte erschreckende Informationen ans Licht: Fast die Hälfte der Geschwistergruppen im Pflegewesen werden getrennt. In England sind derzeit über 12.
000 Kinder von ihren Geschwistern getrennt. Diese Trennungen haben tiefgreifende Auswirkungen auf das Leben der Betroffenen. Ein weiteres Beispiel ist die Geschichte von Saskia, die zusammen mit ihren Brüdern in die Pflege gegeben wurde und später in Pflegefamilien landete, wo sie misshandelt wurden. Sie verlor den Kontakt zu ihren Geschwistern, was bei ihr ein tiefes Gefühl der Trauer und der Identitätskrise auslöste. Auch wenn sie sich später wieder zusammenfanden, bleibt die Frage nach der Kindheitsschmerz, die durch die Trennung verursacht wurde.
Saskia, now eine ausgebildete Sozialarbeiterin, vertritt die Meinung, dass sie und ihre Brüder zusammenbleiben sollten. Es gibt Gesetze, die festlegen, dass Geschwister im Pflegewesen zusammen bleiben sollten, wenn es sicher und möglich ist, aber in der Praxis wird dies häufig ignoriert. Aufgrund des Anstiegs der Zahl der Kinder im Pflegewesen mangelt es oft an geeigneten Pflegefamilien, was zu den Trennungen führt. Ashley und viele andere fordern eine Reform dieser Praxis, um Geschwistern eine bessere Chance auf den Erhalt ihrer Bindungen zu geben. In Schottland wurden gesetzliche Änderungen vorgenommen, die es Geschwistern ermöglichen, mehr Kontrolle über ihre Beziehungen zu haben.
Initiativen wie die Star-Initiative in Fife bieten getrennten Geschwistern die Möglichkeit, sich regelmäßig zu treffen und ihre Bindungen zu stärken. Solche Programme könnten die Wunden der Vergangenheit heilen und Kindern und Jugendlichen helfen, eine stabilere Identität zu entwickeln. Ashley ist dankbar für die Antworten, die er über seine Herkunft gefunden hat, und für die Möglichkeit, Teile seiner Familie kennenzulernen. Obwohl sein Weg herausfordernd war, hält er an der Hoffnung fest, dass die heutigen Pflegekinder eine bessere Chance haben, mit ihren Geschwistern in Kontakt zu bleiben. Für seine Tochter ist er nun in der Lage, ihr Geschichten über ihren Onkel zu erzählen – eine kleine, aber bedeutende Veränderung in ihrer Familiengeschichte.
Die Diskussion über Geschwister im Pflegewesen ist nicht nur wichtig für Ashley, sondern auch für viele andere, die mit ähnlichen Herausforderungen konfrontiert sind. Indem wir die Bedeutung von Geschwisterbeziehungen würdigen und uns dafür einsetzen, dass diese im Zentrum der Pflegepraxis stehen, können wir einen Beitrag zu einer gerechteren und menschlicheren Gesellschaft leisten.