In den letzten Jahren hat die rasante Entwicklung von generativer Künstlicher Intelligenz (GenAI) die Technologielandschaft revolutioniert und neue Berufsbezeichnungen hervorgebracht. Darunter findet sich auch der Begriff „GenAI Engineer“, der auf den ersten Blick wie eine völlig neue Spezialisierung wirkt. Doch bei genauerer Betrachtung zeigt sich, dass hinter dieser Bezeichnung kein grundlegend neuer Beruf steht – vielmehr handelt es sich um den altbekannten Product Engineer, der sich mit neuen Werkzeugen und Fähigkeiten weiterentwickelt hat. Dieser Wandel verursacht jedoch Verwirrung auf dem Arbeitsmarkt, verzerrt Erwartungen und verdeckt ein tiefergehendes Problem, das viele Unternehmen daran hindert, die Talente zu finden, die wirklich den Unterschied machen können. Die Herausforderung besteht nicht darin, neue Rollen zu erfinden, sondern darin, die Kernkompetenzen des Product Engineers zu erkennen und wertzuschätzen, während sich die Tools und Methoden unter seinen Händen wandeln.
Das Phänomen der umbenannten Jobtitel ist keineswegs neu. Es ist Teil eines Zyklus, der im Technologie- und Startup-Umfeld immer wieder auftritt: Innovative Entwicklungen rufen neue Hypes und neue Terminologien hervor, die oft mehr Marketingzwecken dienen als einer tatsächlichen inhaltlichen Neuerung. Investoren, Recruiter und Unternehmen wollen im Rennen um die besten Talente nicht zurückbleiben und prahlen gern mit trendigen Bezeichnungen. Begriffe wie „Forward Deployed AI Engineer“ oder „GenAI Application Engineer“ suggerieren Fortschritt und Exklusivität. Doch im Kern sind es dieselben Menschen, dieselbe Rolle, nur mit neuen Schlagworten.
Der wahre Wert liegt nicht im Titel oder der Technologie selbst, sondern in der Haltung und den Fähigkeiten des Engineers, Probleme zielgerichtet zu lösen und echten Mehrwert zu schaffen. Was macht einen großartigen Product Engineer aus? Es ist nicht das Beherrschen einzelner Programmiersprachen oder das Aufzählen etablierter Frameworks. Vielmehr ist es die Fähigkeit, die Kluft zwischen einer unklaren Kundenanforderung und einer funktionierenden Lösung zu überbrücken. Dieser Typus von Engineer strebt nach Effektivität und Geschwindigkeit, achtet auf Wirkung statt auf Ideologie und ist geprägt von einem unermüdlichen Antrieb, Momentum zu erzeugen. Dabei nutzt er stets die aktuell effektivsten Werkzeuge und Technologien – sei es die traditionelle React-API-Verknüpfung vor einigen Jahren oder heute Agenten, die mithilfe von Large Language Models (LLMs) eigenständig Code schreiben, Bugs beheben und Pull Requests verwalten.
Ein wichtiger Punkt ist dabei die kontinuierliche Abstraktion von Komplexität. Product Engineers bauen keine Grundlagentechnologien wie die eigentlichen Foundation Models der KI. Stattdessen verwenden sie hochentwickelte Plattformen und Tools, um direkt auf der Anwendungsebene Probleme zu lösen und schnelle Iterationen zu ermöglichen. Ihr Fokus liegt auf der Endnutzererfahrung und dem Geschäftswert, den sie durch schlanke und pragmatische Lösungen schaffen. Dabei wächst ihre Verantwortung, da sie neben technischem Know-how auch zunehmend Dialog und Verständnis mit Kunden brauchen, um Anforderungen richtig zu erfassen und umzusetzen.
Ein entscheidendes Problem, das sich durch die üblichen Einstellungsverfahren offenbart, ist, dass diese oft nicht die richtigen Fragen stellen. Klassische Bewerbungsgespräche fordern Kandidaten auf, algorithmische Rätsel oder abstrakte Coding-Challenges zu lösen, was weder praxisnah noch aussagekräftig für die eigentlichen Anforderungen des Jobs ist. Diejenigen, die wirklich einen Unterschied machen, könnten durch dieses Verfahren abgeschreckt oder übersehen werden. Ein Product Engineer der neuen Generation muss vor allem zeigen, wie er mit komplexen, realen Aufgaben umgeht, wo er Kreativität, Flexibilität und effiziente Werkzeugnutzung beweisen kann. Daher schlagen viele Experten vor, Interviews radikal praxisbezogener zu gestalten.
Statt theoretischer Tests sollten Kandidaten echte Aufgaben aus dem eigenen Produkt- oder Codeumfeld erhalten. So lässt sich beobachten, ob sie in der Lage sind, Kundenprobleme zu verstehen, in Teilaufgaben zu zerlegen und mithilfe von KI-gesteuerten Tools wie intelligenten Programmierassistenten, automatisierten Workflow-Agenten oder Code-Analyse-Tools schnell und zielgerichtet zu handeln. Dabei zeigt sich, wer das Large Language Model nicht nur als statischen Wissensspeicher betrachtet, sondern als einen dialogfähigen Partner, der beim Brainstorming und in der Problemlösung kreative Impulse geben kann. Die Kernkompetenz verschiebt sich damit vom reinen Programmieren hin zu kritischem Denken, Kommunikation und der Fähigkeit zur Zusammenarbeit mit KI-Systemen. Für Recruiter bedeutet dies, das Profil von Erfolg neu zu definieren und das Auswahlverfahren entsprechend anzupassen.
Talente, die in einer solchen Umgebung brillieren, schaffen einen enormen Hebel für Produktentwicklung und Time-to-Market. Sie beschleunigen Innovationen und sind oft der Schlüssel zum nachhaltigen Wachstum von Startups oder etablierten Unternehmen gleichermaßen. Die Änderung im Rollenverständnis spiegelt sich auch in den genutzten Werkzeugen wider. Früher war das Zusammenspiel von Frontend und Backend in klassischen Webtechnologien wie React, Node.js oder Ruby on Rails gefragt.
Heute integriert der Product Engineer geniale KI-Agents, orchestriert komplexe KI-gestützte Workflows und koordiniert Multitool-Integrationen, um Probleme zu automatisieren und agil zu lösen. Diese stetige Anpassungsfähigkeit ist ein weiterer Beweis für die Kontinuität im Beruf – die Essenz bleibt die gleiche, nur das Handwerkszeug ist ein anderes. Unterm Strich sollten Unternehmen also vor allem auf die Haltung, Denkweise und Problemlösungsfähigkeiten ihrer technischen Mitarbeiter achten und nicht auf Marketingbezeichnungen oder vermeintliche Buzzwords. Die „neue Uniform“ des GenAI Engineers mag glänzend aussehen – sie verdeckt aber oft nur, was schon immer gefragt war und bleibt: ein Product Engineer mit Leidenschaft für schnelles, pragmatisches und kundenorientiertes Arbeiten. Es ist an der Zeit, den Trend der umgestalteten Berufsbezeichnungen zu durchbrechen und wieder Klartext zu sprechen.