Graven Hill, gelegen am Rande von Bicester in Oxfordshire, stellt ein außergewöhnliches und mutiges Experiment in der britischen Wohnungsbaugeschichte dar. Als Großbritanniens größte Selbstbau-Gemeinschaft bringt der Ort eine beeindruckende Vielfalt an architektonischen Stilen, Bauweisen und persönlichen Visionen zusammen. Hier wurde das traditionelle Konzept des Massenwohnungsbaus durch eine revolutionäre Idee ersetzt: Frei nach Kevin McClouds Wunsch, den Menschen ihre eigenen Grand Designs zu ermöglichen, entstand ein Wohngebiet, das von der Vorstellung lebt, dass Individualität und Kreativität die Häuser prägen sollten – nicht uniformer Einheitsbrei. Diese „Stadt der Selbstbauer“ ist ein chaotisches, manchmal widersprüchliches, aber immer faszinierendes Mosaik lebendiger Architektur. Seit dem Erwerb des 188 Hektar großen Geländes durch den Bezirk Cherwell im Jahr 2014 hat sich Graven Hill zu einem Ort entwickelt, an dem Dächer sich neigen, Fenster in Kreisen, Dreiecken und Quadraten erscheinen und Fassaden aus unterschiedlichsten Werkstoffen wie Stein, Holz, Stahl, Klinker und Faserzementplatten bestehen.
Egal, ob märchenhafte Türme mit Einhorn-Windfahnen oder moderne Glasbalkone – hier treffen diverse Baustile und Materialien wild durcheinander. Ein Spaziergang durch die Straßen wirkt wie ein Durchblättern eines Katalogs für Baustoffe, bei dem die Grenzen zwischen klassisch, rustikal und futuristisch verschwimmen. Das von der örtlichen Architekturfirma LAPD entworfene Haus der Familie Dearsley-Hitchcock steht exemplarisch für den individuellen Charakter der Siedlung. Das Haus mit zwei achteckigen Türmen für die Kinder, blauen Faserzement-Planken und originellen Details wie Lesepinguinen als Windfahnen verzückt Nachbarn und Besucher gleichermaßen. Obwohl der Bau länger dauerte und teurer wurde als geplant – eine Herausforderung, die wohl viele Selbstbauer kennen – wird diese Art des Bauens als eine Erfahrung des lebenslangen Engagements und der persönlichen Erfüllung beschrieben.
Die Inspiration für dieses ungewöhnliche Projekt stammt unter anderem aus Almere in den Niederlanden, einem bekannten Modell für selbstbestimmtes Wohnen, das Nachhaltigkeit, Individualität und Gemeinschaft verbindet. Die britische Regierung überließ das Areal, das früher dem Verteidigungsministerium gehörte, dem örtlichen Bezirksrat, der die Entwicklung mit einem eigenen Unternehmen steuert. Ziel war es, ein Modell für bezahlbaren, selbstbestimmten Wohnraum mit hoher architektonischer Freiheit zu schaffen. Geplant waren 2000 Wohneinheiten, die sowohl von Selbstbauern als auch in „Custom Build“-Modellen realisiert werden sollten, bei denen Hausbesitzer Gestaltungselemente personalisieren können. Dazu wurden unterschiedliche Charakterzonen mit jeweiligen Bauvorschriften entwickelt, um gewisse Qualitäts- und Stilverbindlichkeiten sicherzustellen.
In der Realität verschmelzen die verschiedenen Bereiche jedoch zu einem anarchischen Ensemble, in dem traditionelle architektonische Logik zugunsten von persönlichen Vorlieben zurücktritt. Auch wenn die Vielfalt der Stile den Charme des Ortes ausmacht, führten wirtschaftliche und politische Umstände wie Brexit und die COVID-19-Pandemie zu einem Wandel. Die anfängliche Vision, ein lebendiges, durchmischtes Viertel mit erschwinglichen und individuellen Häusern zu errichten, wurde verwässert. Viele neu gebaute Häuser näherten sich dem standardisierten Bau von großen Entwicklern an, wodurch die Möglichkeit zur Selbstverwirklichung eingeschränkt wurde. Die Preise stiegen, wodurch der Zugang zum Selbstbau für viele zunehmend unerschwinglich wurde.
Auch fehlen noch viele versprochene Infrastrukturmaßnahmen wie Mini-Supermärkte und Bushaltestellen, was die Lebensqualität der Bewohner belastet. Ein weiterer umstrittener Punkt ist der soziale Wohnungsbau. Obwohl 30 Prozent der Häuser als erschwinglicher Wohnraum ausgewiesen sind, wurden diese Unterkünfte oft als eigenständige, räumlich getrennte Bereiche mit niedriger architektonischer Qualität errichtet. Viele Bewohner sehen darin eine unglückliche Trennung zwischen Selbstbauern und Mietern, die das Gemeinschaftsgefühl beeinträchtigt. Beschwerden über bauliche Mängel wie Schimmel oder schlechte Isolierung verstärken zudem den Unmut.
Die Verantwortlichen weisen auf die Herausforderungen dieses ambitionierten Modells hin: Die durch das Gemeindeunternehmen realisierten Grundstücke sind zu deutlich niedrigeren Kosten als in konventionellen Projekten abgegeben worden, was wiederum andere Einnahmequellen zur Deckung von Infrastruktur und Sozialwohnungen erschwert. Zudem verzögern individuelle Bauvorhaben von privaten Eigentümern den Gesamtfortschritt des Areals erheblich, das noch bis 2050 in seiner jetzigen Entwicklungsform andauern könnte. Trotz aller Unwägbarkeiten und kritischen Stimmen besitzt Graven Hill eine bemerkenswerte Faszination. Die Häuser erzählen Geschichten von Träumen, Mut und individuellen Bauprojekten, die weit über das bloße Wohnen hinausgehen. Hier wird persönliches Engagement und Kreativität sichtbar in der gebauten Umwelt – ein Spiegelbild einer Gesellschaft, die unterschiedliche Lebensmodelle zulässt und fördert.
Für viele Bewohner ist der Weg zwar lang, mitunter frustrierend, doch die Möglichkeit, das eigene Heim selbst zu gestalten, bleibt ein wertvolles Privileg. Langfristig steht Graven Hill exemplarisch für die Debatte über die Zukunft des Wohnungsbaus in Großbritannien und darüber hinaus. Es zeigt, wie selbstbestimmtes Bauen Chancen eröffnet und zugleich vor Herausforderungen stellt, die Lösungen jenseits konventioneller Modelle verlangen. Ob sich Custom Build als zukunftsfähiges Modell im großen Maßstab etablieren kann, wird in den kommenden Jahren entscheidend von den politischen Rahmenbedingungen, der gesellschaftlichen Akzeptanz und der wirtschaftlichen Machbarkeit abhängen. Graven Hill demonstriert auf faszinierende Weise, dass Architektur und Wohnraum weit mehr sind als funktionale Gebilde.
Sie sind Ausdruck von Individualität, Gemeinschaft und Kultur. Die komplexe Mischung aus chaotischer Vielfalt, persönlichen Ambitionen und städtebaulichen Herausforderungen macht die Siedlung zu einem lebendigen Laboratorium, dessen Beobachtung und Kritik wichtige Impulse für die Gestaltung moderner Lebensräume geben. Die Vision, eigene Träume als eigene Häuser zu verwirklichen, bleibt ein kraftvolles Versprechen – trotz aller Widrigkeiten.