Joseph Mallord William Turner gilt als einer der bedeutendsten Landschaftsmaler der Kunstgeschichte. Sein Name steht für die revolutionäre Verbindung zwischen Natur, Licht und Farbe, die weit über die konventionelle Landschaftsdarstellung des 19. Jahrhunderts hinausgeht. Im Jahr 2025 jährt sich die Geburt Turners zum 250. Mal, ein Anlass, der neue Einblicke in die entscheidenden Phasen seines Schaffens ermöglicht.
Besonders faszinierend ist die sogenannte „zweite Geburt“ des Künstlers Mitte seines Lebens, ausgelöst durch zwei prägende Landschaftserfahrungen, die sein künstlerisches Schaffen maßgeblich beeinflussten und ihm jene unverkennbare Handschrift verliehen, mit der er heute in der Kunstwelt gefeiert wird. Turners künstlerischer Werdegang begann früh: Bereits mit 14 Jahren trat er in die Royal Academy Schools ein, und ein Jahr später wurde er zum jüngsten Maler, dessen Werk in der Sommerausstellung der Akademie angenommen wurde. Anfangs lag sein Fokus auf topographischen Zeichnungen und naturalistischen Darstellungen historischer Bauwerke oder Landschaften, die er mit großer Detailgenauigkeit festhielt. Seine frühen Werke zeichnen sich durch eine feine Beobachtung und lebensnahe Wiedergabe aus – etwa die Ruinen der Tintern Abbey oder die Arkitekturen von Llandaff und Bolton Abbey. Diese Arbeiten sprechen eine Sprache der Antiquarismus-Bewegung, die sich im Zuge der napoleonischen Kriege und der damit verbundenen Schließung des Kontinents nach Großbritannien wandte und das Interesse am eigenen kulturellen Erbe weckte.
Doch der wahre Wendepunkt in Turners Schaffen ereignete sich durch unmittelbare Erlebnisse und tiefgreifende Begegnungen mit Landschaften und Meisterwerken der Kunstgeschichte. Auf seinen Reisen durch Großbritannien, Europa und insbesondere Italien wandelte sich sein Blick auf die Natur und die bildnerische Darstellung grundlegend. Seine Begegnung mit den beiden Gemälden von Claude Lorrain aus der privaten Sammlung des Sammlers John Julius Angerstein hatte eine nachhaltige Wirkung. Turners Traum von der idealen Landschaft, einer malerischen Komposition voll von lichtdurchfluteten Atmosphären und harmonischem Farbspiel, nahm hier Gestalt an. Claude Lorrain, der für seine idyllischen Seestücke mit versonnenem Lichtspiel berühmt war, wurde für Turner zum Vorbild, dessen Werke er als den Höhepunkt der Landschaftsmalerei empfand.
Die tiefgreifende emotionale Reaktion auf Claudes Arbeiten, die bis zu Tränen ging, unterstreicht, wie sehr Turner die „goldene Aura“ der venezianischen Lichtstimmung suchte und in seinen eigenen Malereien umzusetzen versuchte. Von diesem Moment an übernahm Turner charakteristische Elemente aus Claudes Stil – den hohen Blickwinkel mit rahmenden Bäumen, die sanften Übergänge im Mittelgrund inklusive Wasserpartien und neblige, romantische Bergketten im Hintergrund – und verlegte das Motiv ins britische Umfeld, etwa nach Wales, Yorkshire oder an die Ufer der Themse. Seine Reisen führten Turner auch in selten bereiste Gegenden, die nicht nur seine Freude am Skizzieren und Beobachten nährte, sondern seine künstlerische Sprache und Technik bereicherten. Das Jahr 1802 etwa brachte eine französisch-schweizerische Reise mit sich, die es ihm ermöglichte, Gebirgslandschaften und alpine Atmosphären hautnah zu erleben. 1819 folgten Studien in Italien, von Venedig über Rom bis nach Florenz, die ihn mit der Renaissance und dem Klassiker der europäischen Malerei intensiv vertraut machten.
Turners zweite künstlerische Geburt lässt sich vor allem an seinen radikal veränderten Maltechniken erkennen. War er anfangs ein sorgfältiger Realist, der jede geografische Eigenheit genau festhielt, so wurde sein Spätwerk zunehmend experimentell, fast abstrakt. Licht, Farbe und Atmosphäre treten in den Vordergrund und lösen die Formsprache auf gewohnte Grenzen auf. Seine berühmten Wolkenverhüllungen, Spiegelungen im Wasser, Nebelbänke und grelle Sonnenaufgänge sind Ausdruck eines ganz neuen Verstehens der Natur – nicht mehr nur als Motiv zum Abbilden, sondern als Erlebnis und spirituelle Erfahrung. Seine Werke wie „Snow Storm: Hannibal and his Army Crossing the Alps“ oder „Sun Rising Through Vapour“ stehen exemplarisch für eine Ästhetik, die weder das klare Objekt noch die detailgenaue Wiedergabe sucht, sondern eine stimmungsvolle, beinahe pantheistische Annäherung an die Elemente ermöglicht.
Turner verschmilzt Erde, Luft, Wasser und Feuer zu einem sinnesbetonten Gesamtkunstwerk, wie er selbst sagte: „Die Sonne ist Gott.“ Diese Erkenntnis verbirgt sich hinter der scheinbaren Unschärfe und Unbestimmtheit seiner Bilder, deren emotionale Wirkung heute als Vorbote des Impressionismus und der modernen abstrakten Kunst anerkannt ist. Turners Verhältnis zur Öffentlichkeit und Zeitgenossen war schon zu Lebzeiten ambivalent. Während er als begabter junger Künstler und geschickter Geschäftsmann großer Beliebtheit erfreute, wurden seine späten Arbeiten von Kritikern oft missverstanden oder gar verspottet. John Ruskin etwa sprach von mentaler Verwirrung, und andere warfen ihm vor, mit seinen Techniken das Handwerk eines Malers aufzugeben oder sich der Krankheit hinzugeben.
Dennoch blieben jene gestaltlosen Farbwogen und Lichter scheinbar „wahnsinniger“ Schönheit nicht ohne Wirkung in der Kunstwelt. Erst Jahrzehnte nach seinem Tod wurden sie als bahnbrechende Innovation erkannt und in den Kanon der Kunstgeschichte aufgenommen. Neben der künstlerischen Neuerung sind auch persönliche Aspekte Turners Leben bemerkenswert. Trotz seines Ruhms lebte er lange Zeit zurückgezogen und verstand es, seine finanzielle Lage und Privatleben erfolgreich zu verbergen. Seine späte Beziehung zu Sophia Booth, einem bedeutend jüngeren Gastwirtin, führte zu Skandalen, die jedoch sein Vermögen und künstlerisches Erbe kaum tangierten.
Turner verfügte über beträchtlichen Besitz und Tätigkeiten, die ihn auch als scharfsinnigen Händler und selbstbewussten Unternehmer zeigten. Er investierte früh in Aktien, verhandelte hart mit Käufern seiner Werke und hielt seine Skizzen und Materialien stets unter Verschluss. Das Erbe Turners gilt als Wendepunkt für die Landschaftsmalerei. Mit einem umfangreichen Werk von mehr als 37.000 Zeichnungen, Aquarellen und Gemälden hat er die Möglichkeiten des Genres ausgelotet und ausgeschöpft.
Seine Stiftung einer Professur für Landschaftsmalerei und die Einrichtung einer Turner-Medaille unterstreichen sein Engagement für die künstlerische Weiterentwicklung und Förderung junger Künstler. Sein Wunsch, dass einige seiner Werke gemeinsam mit Claudes Gemälden in der National Gallery hangen, verdeutlicht seine Bewunderung für den klassischen Idealstil und zugleich sein Bedürfnis, mit der Tradition zu brechen und eine neue Ära einzuleiten. In den bedeutenden Turnerausstellungen 2025, unter anderem im Turner Contemporary in Margate, Tate Britain und weiteren renommierten Häusern, wird die Entwicklung und Wirkung des Künstlers umfassend präsentiert. Dabei wird deutlich, wie die zweite „Geburt“ Joseph Mallord William Turners nicht nur seine eigene Kunst revolutionierte, sondern die gesamte europäische Malerei nachhaltig prägte. Es ist ein Zeugnis dafür, dass wahre Meisterwerke nicht nur aus Talent entstehen, sondern durch tiefgreifende Erlebnisse und die Bereitschaft, stets neue Wege und Perspektiven zu suchen.
Turners Leben und Werk erinnern uns daran, dass Kunst mehr ist als reine Abbildung der Wirklichkeit. Sie ist Ausdruck einer inneren Vision und eine Suche nach dem Unsichtbaren im Sichtbaren. Seine Reise von der detailverliebten Naturdarstellung zu leuchtenden Farbatmosphären war sein „zweites Leben“ als Künstler – eine Metamorphose, die Generationen von Malern inspirierte und heute noch staunen macht. Seine Metamorphose steht symbolisch für die Kraft der Natur, der Emotion und des menschlichen Geistes, die zusammen ein unvergleichliches künstlerisches Erbe schufen, das über die Grenzen seiner Zeit hinausstrahlt.