Die Frage, wie Moleküle zu Zeichen wurden, ist eine der grundlegendsten im Verständnis des Lebens und seiner Ursprünge. Die traditionelle Sichtweise in der Molekularbiologie betrachtet DNA und RNA als die ursprünglichen Informationsträger des Lebens – als Träger von Mustern, die von Zelle zu Zelle weitergegeben werden. Doch eine tiefere Betrachtung aus der Perspektive der Biosemiotik zeigt, dass diese Moleküle nicht einfach von sich aus Information tragen, sondern erst durch interpretative Prozesse zu Zeichen werden. Was bedeutet es, dass Moleküle zu Zeichen werden? Es geht um die Fähigkeit eines Systems, einer molekularen Struktur eine Bedeutung zuzuweisen – eine Beziehung zwischen einem Signifikanten (dem Zeichen) und dem Referenten, also jenem, worauf sich dieses Zeichen bezieht. Dabei ist das zentrale Element der Interpretation, die vom System selbst ausgeht, welches solche Zeichen erst sinnvoll machen kann.
Diese Sichtweise verschiebt den Fokus weg von der Molekülstruktur als Informationsträger hin zu den interpretierenden dynamischen Prozessen innerhalb lebender Systeme. Die historische Entwicklung der Idee biologischer Information begann mit Schrödingers ikonischem Werk "Was ist Leben?" aus dem Jahr 1944. Schrödinger stellte dort die „aperiodische Kristallstruktrur“ als Träger biologischer Information vor, eine Metapher, die vor allem durch die Entdeckung der DNA-Doppelhelix durch Watson und Crick 1953 an Realitätsnähe gewann. In diesem Kontext entstand auch Cricks „Zentrales Dogma“ der Molekularbiologie, das den Fluss von Information von DNA zu RNA zu Protein beschreibt. Die Moleküle selbst wurden als Informationsmedien betrachtet, auf deren Grundlage biologische Prozesse ablaufen.
Dennoch blieb eine wichtige Frage unbeantwortet: Was bedeutet „Information“ in diesem Zusammenhang wirklich? In der Informationstheorie, wie sie Claude Shannon 1948 definierte, spielt die Bedeutung, also die Semantik der Information, keine Rolle. Es geht nur darum, Informationen zuverlässig zu übertragen und zu reproduzieren. Doch biologische Information ist mehr als nur Muster – sie muss eine Bedeutung für das System besitzen, das sie verarbeitet. Dies ist der zentrale Punkt, an dem Biosemiotik ansetzt. Der entscheidende Unterschied bei biologischer Information liegt somit in der Interpretation.
Damit eine molekulare Struktur zum Zeichen wird, muss ein Prozess stattfinden, der sie als Repräsentation von relevantem Umweltstatus oder inneren Zuständen erkennt und darauf reagiert. Diese interpretierende Fähigkeit unterschiedet lebende Systeme grundlegend von bloßen materiellen Strukturen. Ein reiner Kopiervorgang, wie bei der DNA-Replikation, kann kein Zeichen erzeugen, denn er ist nicht auf Bedeutung oder Zweck ausgerichtet. Erst wenn ein Molekül in einen interpretativen Prozess eingebunden wird, kann es eine semantische Funktion erhalten. Ein einfaches Modell, das diese Idee illustriert und ohne komplexe Annahmen auskommt, basiert auf einem sogenannten "Autogen" – ein hypothetischer, autarker Virus-ähnlicher Molekülkomplex, der sich durch eine Wechselwirkung aus reziproker Katalyse und Selbstassemblierung selbst reproduzieren kann.
Reziproke Katalyse bezeichnet ein zirkuläres Gefüge, in dem Produkte eines Reaktionsschrittes die nächste Reaktion katalysieren und umgekehrt, wodurch ein Netzwerk aus Phenomenen entsteht, die sich gegenseitig erzeugen und erhalten. Die Selbstassemblierung sorgt für die Bildung einer abschließenden Struktur, wie zum Beispiel einer Virushülle, die diese Katalysatoren enthält und schützt. Das Zusammenspiel dieser Prozesse ermöglicht dem Autogen, selbstständig in ständigem Kreislauf aus Verletzung und Reparatur zu existieren. Diese zyklische Dynamik lässt das Autogen als ein System erscheinen, das nicht nur seine Bestandteile reproduziert, sondern auch sich selbst als Einheit interpretiert. Jede Beschädigung des Systems ist ein "Zeichen" für „Nicht-Selbst“ und ruft eine Reaktion hervor, die auf Wiederherstellung abzielt.
Somit besteht eine rudimentäre Form semioesischer Interpretation: die Unterscheidung zwischen Selbst und Nicht-Selbst via systeminterne Zeichen, die ikonische Semantik in ihrer einfachsten Form. Dieses Prinzip markiert zugleich den Ursprung der Semiose im Leben: Zeichen entstehen nur innerhalb eines interpretierenden Systems, das auf Veränderungen reagiert und sie konsistent als sinnvoll einordnet. Darüber hinaus kann ein Autogen eine Sensibilität gegenüber seiner Umwelt entwickeln, indem es etwa die Stabilität seiner „Hülle“ an Umweltbedingungen koppelt. Ist die Konzentration nützlicher Substrate hoch, wird die Kapsel aktiver und beschleunigt die Reproduktion. Damit interpretiert das System Indikatoren aus der Umwelt als Prüfsteine für die eigene Reproduktionsfähigkeit, was eine weitere semiotische Ebene darstellt – die indexische Semantik, bei der unmittelbare kausale Zusammenhänge zwischen Signalen und Objekten interpretiert werden.
Der enorme evolutionäre Vorteil derartigen interpretativen Vermögens wurde durch die Entwicklung polynukleotidischer Moleküle wie RNA und DNA noch einmal stark erweitert. Ursprünglich könnten diese Moleküle allerdings eine energetische Rolle gespielt haben. Freeman Dyson schlug vor, dass die Vorläufer der RNA erst als Energiespeicher dienten und erst später ihre Rolle als Informationsspeicher annahmen. Die Sequenzen der Nukleotide bilden unterschiedliche dreidimensionale Strukturen aus, die es ermöglichen, andere Moleküle anzulagern und deren Interaktionen zu steuern. Dadurch können komplexe molekulare Netzwerke organisiert und kontrolliert werden – eine drastische Erhöhung der semiotischen Kompetenz.
Die Übertragung von funktionalen Beschränkungen, den sogenannten „Constraints“, von zyklisch-interagierenden Molekülnetzwerken auf die linearen Nukleinsäureketten schafft die Grundlage für die heute bekannte genetische Informationsverarbeitung. Dieser Prozess ist eine Art Verschiebung oder Displacement, bei der die biologischen Informationseigenschaften von der Dynamik des Molekülnetzwerks auf die stabile Struktur des Nukleinsäure-Polymers übertragen werden. Diese Verschiebung schafft eine stabile Plattform, auf der komplexe und wiederholbare Zeichenprozesse möglich werden. Biosemiotik beschreibt diesen mehrstufigen Prozess als eine Hierarchie von Semioseformen, in der ikonische, indexikalische und symbolische Interpretation aufeinander aufbauen. Dabei sind die semiotischen Eigenschaften kein Merkmal des Zeichenträgers selbst, also nicht der Moleküle, sondern des dynamischen Kontextes, in dem diese aufgebaut und interpretiert werden.
Die Moleküle bieten Affordanzen, das heißt Möglichkeiten, die von interpretierenden Systemen genutzt und in Bedeutungen übersetzt werden. Dieses Prinzip lässt sich weit über die molekulare Ebene hinaus auf zelluläre, gewebliche und organismische Ebenen ausdehnen. Auf jeder Ebene entstehen neue Formen von semiotischer Steuerung und Regulierung, die über evolutionäre Zeiträume komplexe und flexible Ordnungssysteme ermöglichen. Die sogenannte semiotische Gerüstlogik veranschaulicht, wie durch Verlagerung von Informationen auf verschiedene Substrat- und Organisationslevel komplexere Interpretationsfertigkeiten entstehen und damit höhere Ordnungsformen biologischer Systeme begünstigt werden. Die traditionelle Sicht der Information als rein physikalisch-materielles Muster wird durch die biosemiotische Perspektive grundlegend erweitert.
Information ist nicht bloß ein technisch-physikalisches Phänomen der Replikation, sondern eingebettet in einen interpretativen Prozess, der Bedeutung erzeugt und aufrechterhält. Dies hat weitreichende Konsequenzen für unser Verständnis von Leben, Informationsbiologie und sogar Kognition. Ein weiterer bemerkenswerter Aspekt ist, dass durch die Verschiebung von Constraints auf Nukleinsäure-Sequenzen neue Formen von Evolution ermöglicht werden, die nicht mehr an unmittelbare dynamische Prozesse gebunden sind. Dadurch kann das System Informationen bewahren, austauschen und weiterentwickeln, unabhängig von den schnelleren molekularen Interaktionen. Dies bildet die Grundlage für offene evolutionäre Entwicklungen und komplexe organismische Anpassungen.
Letzten Endes scheint die Entwicklung, durch die Moleküle zu Zeichen werden, eine Kette von evolutionären Innovationen zu sein, die von einfachen physikalisch-chemischen Dynamiken über sich selbst reproduzierende molekulare Systeme zur Entstehung von Zeichen- und Interpretationssystemen führte. Die Biosemiotik zeigt eindrucksvoll, wie damit das biologische Informationsproblem auf eine tiefergehende semiotische Basis zurückgeführt werden kann. Dies deutet einen Paradigmenwechsel an: von einer rein materiellen Sicht auf lebendige Systeme hin zu einer Betrachtungsweise, die Interpretation und Bedeutung als zentral erkennt. Die Erforschung dieses Prozesses birgt nicht nur Einsichten zum Ursprung des Lebens, sondern auch zur Entwicklung von Kognition, Sprache und Kultur. Denn letztlich baut auch menschliche Bedeutung auf der biosemiotischen Grundlage der molekularen Interpretation auf.
Das Verständnis, wie Moleküle zu Zeichen wurden, ist deshalb nicht nur eine Frage der Biologie, sondern der gesamten Wissenschaft der Zeichen und Bedeutungen, die auf das Leben Bezug nehmen.