Die Advanced Research and Invention Agency, kurz ARIA, steht im Zentrum eines ambitionierten Projekts Großbritanniens, das darauf abzielt, die Wissenschaftslandschaft grundlegend zu verändern. Oft als „britisches DARPA“ bezeichnet, ist ARIA jedoch weit mehr als eine simple Kopie der US-amerikanischen Defense Advanced Research Projects Agency. Der Verein soll mit einem frischen Ansatz Bereiche der Forschung erschließen, die bislang als zu spekulativ, zu langfristig oder schlicht zu riskant für konventionelle Fördermechanismen galten. Im Gegensatz zu traditioneller Forschungsförderung liegt der Schwerpunkt bei ARIA darauf, großangelegte, transformative Projekte zu ermöglichen, die das Potenzial besitzen, völlig neue technologische Wellen zu schaffen und dadurch Wirtschaftswachstum, Wohlstand und Lebensqualität sowohl in Großbritannien als auch weltweit zu steigern. Das Besondere an ARIA ist die Freiheit und Unabhängigkeit, mit der die Agentur agiert.
Sie wurde mit dem ausdrücklichen Ziel gegründet, von Anfang an unbürokratisch, experimentierfreudig und risikobereit zu arbeiten. Im Gegensatz zu anderen staatlichen Förderprogrammen, die oft durch langwierige Genehmigungsverfahren und politisches Eingreifen gekennzeichnet sind, genießt ARIA weitgehende Autonomie. Das ermöglicht es, mutige Zielsetzungen zu verfolgen und auch Wetten auf Ideen zu platzieren, deren Ausgang ungewiss ist, die aber bei Erfolg revolutionäre Auswirkungen haben können. Damit entsteht Raum, um Forschung zu finanzieren, die jenseits des gewohnten Rahmens angesiedelt ist – ganz im Sinne eines Metawissenschaftsexperiments, bei dem nicht nur wissenschaftliche Erkenntnisse im Zentrum stehen, sondern vor allem die Struktur und Funktionsweise der Innovationsförderung selbst neu gedacht wird. Zentral für ARIA ist das Konzept der „Opportunity Spaces“.
Diese definieren große Themenbereiche, in denen die Agentur und ihre Programmleiter – sogenannte Program Directors – strategisch investieren und kreative Entwicklungsprozesse anstoßen wollen. Anders als bei klassischen Projektförderungen sollen diese Programme nicht einfach nur einzelne Produkte hervorbringen, sondern große Bewegung erzeugen, sogenannte Technologie-Plattformen, die industrielle Praktiken und ganze Branchen nachhaltig verändern können. Dabei ist das Ergebnis eines Programms nicht zwangsläufig ein konkreter Erfolg im engeren Sinne – vielmehr zählt der Einfluss auf die Forschungs- und Innovationslandschaft und die Veränderung der vorherrschenden Denkweisen in einem bestimmten Feld. Ein anschauliches Beispiel für einen solchen Opportunity Space ist das Programm „Programmable Plants“. Unter der Leitung von Angie Burnett, einer erfahrenen Pflanzphysiologin, wird hier das Potenzial untersucht, Pflanzen als technologische Plattformen gezielt zu gestalten und zu programmieren.
Ziel ist es, durch Fortschritte in der synthetischen Biologie und genetischen Verfahren die Funktionalität von Pflanzen radikal zu erweitern. Die Motivation dahinter ist die Überzeugung, dass Landwirtschaft ein entscheidender Schlüssel im Kampf gegen globale Herausforderungen wie Nahrungssicherheit und Klimawandel sein kann. Da Pflanzen bereits heute Mengen an Kohlenstoff binden, die in „Gigatonnen“ gemessen werden, eröffnen sich hier massive Hebel und Chancen, die weit über traditionelle Forschungsansätze hinausgehen. Die innovative Idee dahinter ist, dass Pflanzen zukünftig nicht nur als Nahrungsmittel dienen, sondern aktiv zur Lösung komplexer Umweltprobleme beitragen können – ein Paradigmenwechsel, der alle Konventionen der Züchtung und Landwirtschaft sprengen würde. Die Entstehung und Umsetzung solcher Programme zeigt, wie ARIA mit gezielten Workshops und interdisziplinären Netzwerken Forscher unterschiedlicher Fachrichtungen zusammenbringt, die bislang kaum oder gar nicht kooperierten.
Im Fall der programmierten Pflanzen ermöglicht ARIA es Wissenschaftlern, die in synthetischer Biologie arbeiten, sich mit Experten der Pflanzenwissenschaft zu vernetzen und so völlig neue Lösungsansätze zu entwickeln. Dieses Zusammenführen von Perspektiven schafft eine Vielfalt und Dynamik, die in etablierten Forschungssystemen oft nur schwer zu realisieren ist. Ein weiteres hervorstechendes Merkmal von ARIA ist der Einsatz von Program Directors mit Zeitbegrenzung auf drei bis fünf Jahre. Diese Programmleiter erhalten große Verantwortung und weitreichende Freiheiten, eigene Programme zu initiieren und aktiv zu steuern. Sie fungieren nicht nur als Förderer, sondern auch als Manager, Mentor und Visionär, der Teams und Projekte koordiniert und zielgerichtet vorantreibt.
Dies orientiert sich am Vorbild DARPA, wird bei ARIA jedoch eigens an den spezifischen britischen Kontext angepasst und fokussiert auf gesellschaftlich relevante, transformative Innovationen. Die Auswahl dieser Führungskräfte erfolgt gezielt nach dem Kriterium, dass sie bereit sind, unkonventionelle Wege zu gehen, hohe Risiken zu akzeptieren und völlig neue Fragestellungen zu verfolgen. Im Unterschied zu traditionellem Venture Capital, das häufig auf bereits erkennbare Markttrends reagiert und in bestehende Technologien investiert, sieht sich ARIA selbst als Impulsgeber, der die Entstehung von Innovationswellen überhaupt erst anstößt. Eine passende Metapher ist hier das Surfen: Während ein Venture Capitalist abwartet, ob eine Welle genügend Höhe erreicht, um sie zu reiten, tritt ARIA bereits als „Paddler ins Wasser“, der durch gezielte Anschübe diese Wellen formt und verstärkt. Das bedeutet, ARIA initiiert Ideen, für die heute vielleicht noch keine Dynamik besteht, aber deren Entwicklung möglicherweise die Zukunft maßgeblich prägen kann.
Der Förderprozess bei ARIA ist bewusst schlank und einladend gestaltet. Insbesondere bei den so genannten „Seed Awards“ reicht eine kurze, maximal drei Seiten umfassende Bewerbung, in der Bewerber ihre Idee vorstellen und begründen, warum diese derzeit nicht anders gefördert werden kann. Diese unkomplizierte Handhabung soll innovative, manchmal noch unerschlossene Ansätze anziehen und eine Vielzahl an exzellenten Forschungsteams erreichen. Die Förderbeträge können bis zu einer halben Million Pfund betragen, mit der Option auf erhebliche Aufstockungen bei vielversprechenden Ergebnissen. Dabei setzt ARIA auch auf eine hohe Entscheidungsdynamik: Die Bewerber erhalten innerhalb von wenigen Wochen Rückmeldung, was Planungssicherheit schafft und die Innovationsgeschwindigkeit erhöht.
Ein weiterer bemerkenswerter Aspekt ist die Offenheit der Agentur bezüglich des Umfelds, in dem die Forschung stattfindet. Es wird nicht zwingend vorausgesetzt, dass Projekte an traditionellen Universitäten oder etablierten Instituten angesiedelt sind. Ganz im Gegenteil: ARIA unterstützt ausdrücklich Forscher, die als unabhängige Entwickler, in Start-ups oder an alternativen Orten arbeiten möchten. Dieses flexible Modell soll die besten Rahmenbedingungen schaffen, um bahnbrechende Ideen nicht durch institutionelle Zwänge oder starre Strukturen zu behindern. Die Vision von ARIA wird dabei ganz wesentlich durch den Hintergrund von Ilan Gur, dem ersten CEO der Agentur, geprägt.
Gur bringt umfangreiche Erfahrungen aus seiner Zeit bei ARPA-E in den USA mit, einer Förderinstitution, die vor allem im Bereich Energieforschung kreative, technologieorientierte Projekte mit hoher Risikobereitschaft unterstützt. Sein persönlicher Werdegang als Gründer, Wissenschaftler und Innovationsexperte hat ihm gezeigt, wie wichtig es ist, nicht nur Kapital, sondern vor allem die richtigen Menschen und geeignete institutionelle Rahmenbedingungen zusammenzubringen. Für ihn sind Start-ups und flexible Forschungsumgebungen der Schlüssel, um transformatorische Wissenschaft zu ermöglichen. Diese Philosophie ist in der Struktur von ARIA deutlich sichtbar. Die Bereitschaft, Programme zu finanzieren, deren Erfolg unsicher ist oder deren Ausgang vollkommen neuartig sein kann, ist eine fundamentale Neuerung.
Anstatt sich auf „sichere“ Forschung zu konzentrieren, fördert ARIA gezielt Ideen, die umstritten sind oder auf den ersten Blick starke Zweifel hervorrufen. Das soll ein System schaffen, das Varianz und Diversität im Innovationsökosystem erhöht und so die Chancen auf wirklich revolutionäre Durchbrüche maximiert. Ein gesunder Grad an Kontroverse und Skepsis wird nicht als Hindernis, sondern als Indikator für Innovationspotenzial verstanden. Zukünftig strebt ARIA an, eine überschaubare Gruppe von 15 bis 20 Program Directors zu beschäftigen, die über mehrere Jahre hinweg kontinuierlich verschiedene Opportunity Spaces bearbeiten und in Erfolgsgeschichten verwandeln. Dabei soll tiefgehende Expertise mit einer Kultur der Wagnisbereitschaft kombiniert werden.
ARIA steht dabei zwar noch am Anfang, liefert aber bereits wertvolle Erkenntnisse darüber, wie modernes Forschungsmanagement mit mutigen Zielen und weniger Verwaltungsaufwand aussehen kann. Insgesamt ist ARIA ein spannendes Beispiel dafür, wie ein Land im 21. Jahrhundert versuchen kann, seine Innovationsfähigkeit radikal zu steigern. Durch die Verbindung von Unabhängigkeit, Mut, Flexibilität und konkreten Zielsetzungen stellt ARIA eine vielversprechende Alternative zu herkömmlichen Forschungsfördermodellen dar. Ob sie letztlich eine ähnlich prägende Rolle wie DARPA oder historische Persönlichkeiten wie Warren Weaver und JCR Licklider spielen wird, bleibt abzuwarten.
Eines ist aber sicher: ARIA steht für eine neue Denkrichtung, die Wissenschaft und Technologie als Motor für gesellschaftlichen Wandel und Fortschritt versteht. Für Forscher, Unternehmer und Innovatoren in Großbritannien und darüber hinaus eröffnen sich dadurch vielfältige Chancen, die Grenzen des Möglichen auszuloten und mitzugestalten.