In der malerischen Stadt Boulder im US-Bundesstaat Colorado begann eine bemerkenswerte Geschichte, als Professorin Katie Suding von der Universität Colorado Boulder zusammen mit ihren Kindern einen einzelnen, scheinbar verlassenen Apfelbaum in einer offenen Prärie entdeckte. Was zunächst wie eine einfache Beobachtung wirkte, entwickelte sich zu einer umfassenden lokalen Bewegung, die sich dem Erhalt seltener Apfelsorten und der Wiederbelebung einer fast vergessenen Obstbautradition verschrieben hat. Die Geschichte hinter dieser Entdeckung und der daraus entstandenen Initiative, dem Boulder Apple Tree Project (BAPT), zeigt eindrucksvoll, wie Wissenschaft, Geschichte und bürgerschaftliches Engagement ineinandergreifen können, um Natur und Kulturerbe zu bewahren. Die Spurensuche begann im Jahr 2017, als Katie Sudings Kinder den alten Apfelbaum in einem Feld entdeckten, das weit entfernt von städtischer Besiedlung lag. Das Rätsel, wie dieser Baum an diesen Ort gelangt war und welche Geschichte sich dahinter verbarg, führte dazu, dass Suding ein interdisziplinäres Team aus Wissenschaftlern, Historikern und lokalen Freiwilligen zusammenstellte, um die Spuren der Apfelbäume in der Region zu erforschen.
Schon bald offenbarte die Untersuchung, dass Boulder und seine Umgebung einst eine blühende Apfelindustrie besaßen, die im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert eine bedeutende Rolle spielte. Historische Luftaufnahmen aus den 1930er Jahren zeigten zahlreiche Obstgärten in und um Boulder, insbesondere in der Gegend um den Eldorado Canyon und entlang von Bewässerungsgräben in Nord Boulder. Diese waren eng verbunden mit der Bergbau- und Tourismusgeschichte der Region, da sie die Hotels und Gemeinden vor Ort mit frischem Obst versorgten.
Die rasche Urbanisierung und die Verlagerung der Apfelproduktion nach Washington State führten im Laufe der Jahrzehnte allerdings dazu, dass die traditionelle Obstbaukultur in Colorado an Bedeutung verlor. Dabei gerieten unzählige Apfelsorten in Vergessenheit und der US-amerikanische Apfelsortenbestand erfuhr eine genetische Verengung, da nur wenige robuste und ertragreiche Sorten den Massenmarkt dominierten. Die Boulder Apple Tree Project Initiative setzte genau hier an: Mit genetischer Analyse und systematischer Kartierung arbeiteten die Beteiligten daran, alte und oft vernachlässigte Apfelsorten zu identifizieren und zu bewahren. Besonders die ältesten Bäume, die oft kurz vor dem Ende ihrer Lebenszeit standen, lieferten wertvolle genetische Informationen. Da Apfelbäume genetisch nicht über Samen unverändert weitergegeben werden, erfolgte die Erhaltung der Sorten mittels Veredelung, also dem Klonen der Bäume durch die Verknüpfung von Zweigen auf geeignete Unterlagen.
Diese Methode bewahrt die genetische Identität jeder einzelnen Apfelsorte und ermöglicht ihre Nachzucht. Von 2018 bis 2022 beteiligte sich die lokale Gemeinschaft an sogenannten „Apple Blitzes“, bei denen Freiwillige und Studierende verschiedener Colleges und Universitäten Apfelbäume in ganz Colorado und sogar im Norden New Mexicos dokumentierten. Auf diese Weise konnten über 1000 Bäume kartiert und etwa 30 von ihnen per DNA-Analyse als benannte Apfelsorten identifiziert werden. Das Projekt hat sich in den letzten Jahren deutlich weiterentwickelt: Vom bloßen Auffinden alter Bäume hin zu aktivem Schutz, Pflege und Wiederanpflanzung verlorener Sorten. Die Pflanzung regionaler Erhaltungsgärten – etwa auf einer städtischen Fläche, die durch Autobahnausbau abgeschnitten worden war – bildete dabei einen wichtigen Meilenstein.
Mithilfe von Programmen zur beruflichen Wiedereingliederung und finanzieller Unterstützung durch Stipendien der Universität konnte die Initiative zwei neue Obstgärten anlegen, darunter einen direkt auf dem Campus der Universität Boulder. Dieser fungiert nicht nur als Ernteort, sondern auch als lebendiges Lehr- und Begegnungsgelände für Studierende verschiedener Fachrichtungen. Die Auswahl der gepflanzten Sorten bot eine Mischung aus historischen und regionale Bedeutung tragenden Äpfeln wie Macoun, Wealthy und Wolf River. Die Integration von trockenheitsresistenter heimischer Vegetation zwischen den Reihen sorgt zudem dafür, dass sich die Anpflanzungen umweltgerecht in die Prärieumgebung einfügen. Das Projekt verbindet ökologische, kulturelle und soziale Ziele: Alle geernteten Früchte werden der Buff Pantry zur Verfügung gestellt, einer Einrichtung, die bedürftige Studierende und Angestellte ernährungstechnisch unterstützt.
Gleichzeitig entstehen Möglichkeiten für Freiwillige aus der Gemeinde, sich aktiv mit der Pflege der Obstgärten zu beschäftigen, vom Beschneiden und Ernten bis zur Vorbereitung für die Wintermonate. Neben praktischen Maßnahmen verfolgt das Boulder Apple Tree Project auch einen modernen wissenschaftlichen Ansatz. Durch den Einsatz einer eigens entwickelten App können Bürgerinnen und Bürger Apfelbäume melden, kartieren und so zur Erweiterung der genetischen Datenbank beitragen. Auch regelmäßige Veranstaltungen wie die jährliche Grafting Day – ein Tag zum gegenseitigen Erlernen und Ausprobieren von Veredelungstechniken – bereichern das Gemeinschaftsgefühl und fördern das Wissen um die Bedeutung der Apfelvielfalt. Diese Initiative beweist eindrucksvoll, dass der Erhalt von Biodiversität weit über den Schutz von Wildpflanzen und Tieren hinausgeht.
Alte Obstsorten sind lebendige Kulturträger, die eng mit der Geschichte menschlicher Migration, Landwirtschaft und regionaler Entwicklung verknüpft sind. Indem Boulder seine fast verlorenen Apfelsorten wiederentdeckt und pflegt, schafft die Stadt nicht nur eine Verbindung zu ihrer eigenen Vergangenheit, sondern stellt auch die Weichen für eine nachhaltigere und diversifizierte Zukunft im Obstbau. Die Bedeutung solcher Projekte zeigt sich nicht zuletzt darin, dass sie auch auf breiterer Ebene auf die Herausforderungen des Verlustes von Biodiversität in der Landwirtschaft aufmerksam machen und Alternativen zu massenproduzierten Monokulturen aufzeigen. Der Boulder Apple Tree Project Ansatz kann als Modell für vergleichbare Initiativen in anderen Regionen gelten, die das Erbe alter, lokaler Nutzpflanzen bewahren möchten. In Zeiten von Klimawandel und sich wandelnden Umweltbedingungen gewinnt die genetische Vielfalt von Feldfrüchten und Obstsorten immer mehr an Bedeutung.