Die Fähigkeit, komplexe Texte zu lesen und zu verstehen, gilt als eine der grundlegenden Kompetenzen, die Hochschulstudierende mitbringen sollten. Besonders von Studierenden der Englischen Literatur wird erwartet, dass sie selbst schwierigste Prosa und anspruchsvolle literarische Werke bewältigen. Eine wissenschaftliche Untersuchung mit 85 Englisch-Majors an zwei regionalen Universitäten im Mittleren Westen der USA zeigt jedoch, dass viele Studierende trotz ihrer Studienrichtung große Schwierigkeiten mit einem relativ kurzen, aber komplexen Auszug aus Charles Dickens’ Bleak House haben. Diese Erkenntnisse werfen ein beunruhigendes Licht auf das Leseverständnis von Hochschulstudenten, das selbst in studienrelevanten Fachrichtungen offenbar unzureichend ausgeprägt ist. Die Studie wurde zwischen Januar und April 2015 durchgeführt und nutzte die sogenannte Think-Aloud-Methode, bei der Studierende laut vorgelesen und danach jede einzelne Aussage in ihren eigenen Worten zusammenfassen sollten.
Dabei hatten sie Zugang zu Online-Wörterbüchern und anderen Ressourcen, konnten sogar ihre Handys benutzen, um Unklarheiten zu klären. Dennoch zeigte sich, dass ein signifikanter Anteil der Probanden die komplexen Inhalte kaum erfassen konnte. Die Ausgangsbasis der Teilnehmer war durchschnittlich mit einem ACT-Reading-Score von 22,4 bewertet, was einem niedrigen Mittelniveau entspricht und bereits vor Studienbeginn auf Defizite im Lesen von anspruchsvollem Text hinweist. Ein wesentlicher Fokus der Untersuchung lag auf dem Begriff der „proficient-prose literacy“, einer Stufe von Lesefähigkeiten, die laut US-Bildungsministerium dazu befähigt, lange, abstrakte Texte zu verstehen, Informationen zu synthetisieren und komplexe Schlüsse zu ziehen. Die meisten der Teilnehmer erreichten diese Stufe nicht.
Besonders kritisch ist dabei, dass 58 Prozent der Studierenden, die im Test als „problematische Leser“ eingestuft wurden, selbst zuversichtlich angaben, den gesamten Roman Bleak House problemlos lesen zu können – eine Diskrepanz zwischen Selbstwahrnehmung und tatsächlicher Lesekompetenz. Die Problematik liegt nicht nur im Umfang des Wortschatzes, sondern vor allem im Umgang mit komplexen Satzstrukturen, historischen und kulturellen Bezügen sowie der Interpretation von Metaphern und sprachlichen Figuren. Dickens’ Schreibstil, reich an Symbolik und Anspielungen auf die Gesellschaft des 19. Jahrhunderts, fordert Leser, über die reine Wortbedeutung hinauszugehen. Viele Probanden konnten diesen Anspruch nicht erfüllen, übersahen oder missverstanden komplexe Details und nahmen metaphorische Sprache oft wörtlich, was zu absurden Interpretationen führte.
Beispielsweise wurde ein beschriebenes prähistorisches Tier als tatsächliches Tier in einer Alltagssituation aufgefasst, anstatt als stilistisches Mittel zu erkennen. Teilweise war die mangelnde Lesekompetenz darauf zurückzuführen, dass die Studierenden viele wichtige kulturelle und historische Kontexte nicht präsent hatten oder sie im Laufe ihrer Schul- und Studienzeit nicht ausreichend verankert wurden. Die Befragung ergab, dass fast die Hälfte der Teilnehmer höchstens eine bekannte Gestalt oder Werk der Literatur des 19. Jahrhunderts nennen konnte und nur wenige in der Lage waren, auch nur einfache historische Fakten dazu zu erläutern. Damit fehlten ihnen wichtige Hintergrundinformationen, um literarische Texte tiefgründig zu analysieren.
Methodisch fasste die Studie die Probanden in drei Gruppen: problematische Leser, kompetente Leser und profunde Leser. Die erste Gruppe machte den größten Anteil aus und zeichnete sich durch oberflächliche Lesegewohnheiten aus, häufiges Raten, Auslassen von schwierigen Passagen und die Nutzung von externen Zusammenfassungen wie SparkNotes. Kompetente Leser erzielten bessere Ergebnisse, konnten allerdings nur etwa die Hälfte der Textinhalte sicher interpretieren und blieben oft bei vagen oder ungenauen Zusammenfassungen hängen. Die kleinste Gruppe der profunden Leser – lediglich fünf Prozent – zeigte eine ausgeprägte Fähigkeit, auch komplexe sprachliche Strukturen und figurative Sprache zu verstehen und korrekt wiederzugeben. Die Ergebnisse der Untersuchung stimmen mit größeren nationalen Bildungstrends überein, die in den letzten Jahren eine Abnahme der Lesekompetenz bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen dokumentieren.
Nationale Tests und Berichte bestätigen, dass viele Abiturienten und Studienanfänger zwar grundlegende Lesefähigkeiten besitzen, jedoch oft die für akademisches Arbeiten und beruflichen Erfolg wichtigen anspruchsvollen Fähigkeiten fehlen. Ein besonderes Problem ist die fehlende Fähigkeit, beim Lesen kritisch und rekursiv zu denken, sprich verlorene Fragmente erneut zu erfassen und Interpretationen zu überprüfen. Aus der Perspektive der Hochschullehrer ist diese Entwicklung alarmierend. Es zeigt sich, dass viele Studierende trotz mehrjähriger Literatur- und Englischunterrichtserfahrung Schwierigkeiten haben, Standardwerke der Weltliteratur adäquat zu verstehen und zu analysieren. Akademische Erwartungen basieren oft auf der Annahme, dass sich Studierende solche Kompetenzen eigenständig aneignen, doch die Studie legt nahe, dass gezieltes Training und Unterstützung notwendig sind, um fundamentale Lesefähigkeiten auf ein professionelles Niveau zu heben.
Besonders kritisch ist die Tatsache, dass mangelndes Leseverständnis sich nicht nur auf das Studium beschränkt, sondern langfristig die Karrierechancen und das persönliche Fortkommen beeinträchtigen kann. Untersuchungen zeigen, dass Personen mit hohen Lesekompetenzen im Schnitt deutlich bessere Beschäftigungs- und Einkommenschancen haben. Im Gegenzug stehen Hochschulabsolventen mit mittlerer oder geringer Lesefähigkeit oft vor der Problematik einer sogenannten Malbeschäftigung – sie üben Berufe aus, die ihre Qualifikation nicht widerspiegeln und erhalten de facto Löhne, die kaum über denen von Personen mit nur einem High-School-Abschluss liegen. Die Studie legt nahe, dass Hochschulen ihr Verständnis von Lesekompetenz überdenken und verstärkt Angebote und Lehrmethoden entwickeln sollten, die das selbstverständliche Lesen komplexer Texte und die kritische Reflexion fördern. Denkbar wären unter anderem standardisierte Kompetenztests zu Studienbeginn, gezielte Lese-Seminare und die Integration von Lesestrategien in verschiedene Fachbereiche.
Gleichzeitig sollten Dozentinnen und Dozenten sich bewusst sein, dass gute Noten nicht automatisch mit einem tiefgehenden Textverständnis korrelieren. Abschließend ist festzuhalten, dass die Lesefähigkeiten von Studierenden nicht als selbstverständlich gelten dürfen, selbst in literaturbezogenen Fächern. Die vorliegende Analyse hebt die kritische Bedeutung von aktivem, reflektiertem Lesen hervor und fordert ein Umdenken in der akademischen Ausbildung sowie der schulischen Vorbereitung auf die Anforderungen im Studium und darüber hinaus. Die Zukunft erfolgreicher Studierender und Berufstätiger hängt maßgeblich von der Fähigkeit ab, komplexe Texte zu verstehen, zwischen den Zeilen zu lesen und Inhalte kritisch zu bewerten – Fähigkeiten, die über reine Oberflächenkompetenz weit hinausgehen.