In Buenos Aires steht die Fußballleidenschaft im Zentrum des gesellschaftlichen Lebens. Für viele Touristen sind die riesigen Stadien von Boca Juniors oder River Plate die ersten Anlaufstellen. Doch wer ein authentisches Erlebnis jenseits der großen Namen sucht, findet bei Clubs wie Vélez Sarsfield ein unverfälschtes Stück argentinischer Fußballkultur. Beim Besuch eines Spiels der letztjährigen Meister wurde schnell klar, dass Fußball hier mehr als nur Sport ist: Er ist Verbindung zur Heimat, zur Gemeinschaft und sogar zu den eigenen Kindheitserinnerungen. Die Entscheidung, eine Begegnung von Vélez Sarsfield zu besuchen, fiel aus mehreren Gründen.
Zum einen ist der Zugang zum Spiel bei den Giganten Boca und River aufgrund der hohen Mitgliederzahlen äußerst schwierig – beide Vereine verfügen jeweils über mehr als 340.000 sogenannte „socios“, die Vorrang beim Ticketkauf haben. Zum anderen sind die Anstoßzeiten bei den großen Clubs oft erst kurzfristig bekannt, was die Planung erschwert. Vélez hingegen überzeugt nicht nur durch seine sportlichen Erfolge, sondern auch durch einen familiären Charakter und eine treue Anhängerschaft, die mitunter sehr stolz darauf ist, nicht wie die großen Rivalen für den Massentourismus zu stehen. Vélez Sarsfield, im Stadtteil Liniers beheimatet, zählt zu den traditionsreichsten Fußballvereinen Argentiniens.
Der Slogan des Clubs „Der erste, der ein großer Club war“ zeigt die tief verwurzelte Identität und den Stolz, mit dem die Fans ihren Verein unterstützen. Eine wichtige Figur in der Geschichte von Vélez ist zweifellos José Luis Chilavert, einer der berühmtesten Torhüter Argentiniens. Bekannt wurde Chilavert nicht nur durch seine spektakulären Paraden, sondern auch durch seine Fähigkeit, Torhüter-untypisch viele Tore zu erzielen – rund 40 für Vélez, hauptsächlich durch Strafstöße und direkte Freistöße. Trotz seiner robusten Erscheinung war er eine Inspiration für viele junge Fans und ist bis heute eine lebende Legende. Der Matchtag begann mit einem ganz besonderen kulinarischen Erlebnis.
In einem einfachen Sozialklub nahe dem Stadion wurde als traditioneller Snack Choripán serviert – eine köstliche Chorizo-Wurst im weichen Baguette. Diese Spezialität ist in Argentinien bei Fußballveranstaltungen unverzichtbar und verbindet Fans aller Altersgruppen bei einem gemeinsamen Genuss. Da im Stadion selbst aus Sicherheitsgründen kein Alkohol ausgeschenkt wird, ist die Stimmung vor dem Spiel in den umliegenden Bars und Treffpunkten meist ausgelassener und entspannter. Bevor die Zuschauer das José Amalfitani-Stadion betraten, sahen sie sich strengen Sicherheitskontrollen gegenüber. Die argentinischen Stadien sind bekannt für ihre oft strikte Handhabung bezüglich der mitgebrachten Gegenstände und der Einlassprozeduren, insbesondere angesichts der Vergangenheit mit Zwischenfällen bei Spielen.
Die Atmosphäre innen wirkte ungewohnt ruhig. Das Stadion, mit einer Kapazität von 45.000 Zuschauern, war nur zur Hälfte gefüllt. Vielleicht lag dies am späten Anstoß um 21.15 Uhr an einem Montag oder an der derzeit mäßigen Form der Heimmannschaft.
Auch der Gegner, Sarmiento, ist kein Name, der viel Aufmerksamkeit auf sich zieht. Trotz der überschaubaren Zuschauerzahl war die Stimmung unter den Fans intensiv. Die ultras von Vélez positionierten sich unter bunten Bannern und Fahnen, die von der oberen Tribüne bis zum Spielfeld reichten. Ihre Gesänge hallten stetig durch die Luft und vermittelten, wie tief die Leidenschaft für den Verein sitzt, auch wenn die Mannschaft nicht durch spektakuläre Spielzüge glänzte. Das Fußballniveau erinnerte an die England Championship: robust, mit viel Einsatz, gelegentlicher Technik, aber ohne die große Spielfinesse oder zahlreiche Torchancen.
Ein besonderer Aspekt waren die vielen Kinder, die die Tribünen bevölkerten. Manche Kinder waren in Kinderwagen auf den steilen Stufen platziert, andere wurden von stolzen Eltern in die Höhe gehalten, damit sie dem Geschehen auf dem Platz ganz nah sein konnten. Es ist bemerkenswert, wie der Club trotz der späten Stunde und der Bedeutungslosigkeit des Spiels großen Wert darauf legt, junge Fans anzusprechen und ihnen den Fußball als Teil ihrer ersten Lebensjahre näherzubringen. Es entsteht damit eine zukunftsträchtige Verbindung zwischen Verein und Community. Der Verlauf des Spiels spiegelte die aktuelle Krise von Vélez wider.
Nach der großen Meisterschaft in der vergangenen Saison zeigte die Mannschaft eine ernüchternde Heimbilanz: acht Spiele, nur zwei Siege und insgesamt lediglich zwei Tore auf eigenem Platz. Die Fans, trotz ihrer Hingabe, schienen sich mit der Misere abgefunden zu haben, was der Stadionspitze den Spitznamen „El Fortín“ – die kleine Festung – fast schon ironisch erscheinen ließ. Statt Stabilität schien die Abwehr vor allem durchlässig, was den Gegnern Raum für ihre Spiele gab. Das Spiel entwickelte sich zäh und wenig aufregend. Erst in der Schlussphase wurde das Ergebnis entschieden: Ein Sarmiento-Ersatzspieler erzielte knapp 20 Minuten vor Schluss das einzige Tor.
Die Reaktion der Vélez-Fans war verhalten, nahezu gespenstisch still, eine Symptomatik des Frusts, die sich langsam breitmacht. Die Abwesenheit von Gästefans führt zu einer ungewöhnlichen Stimmung, da die anfeuernden Duelle der Fanlager fehlen und die Dynamik des Spiels stark beeinflussen. Eine dramatische Szene ereignete sich in der Nachspielzeit, als Vélez einen Elfmeter zugesprochen bekam. Doch die Ausführung wurde zu einem Debakel: Der Stürmer Michael Santos, genervt von den Verzögerungen durch Proteste der gegnerischen Mannschaft, schoss den Ball vor dem Pfiff des Schiedsrichters ins Tor. Sein Versuch wurde wiederholt, doch diese zweite Chance nutzte er nicht, der Ball ging über das Tor.
Diese verpasste Gelegenheit besiegelte eine weitere Niederlage und verlängerte die Negativserie der Gastgeber. Als das Spiel zu Ende ging, warfen die Verantwortlichen eine große aufblasbare Festung über das Spielfeld hinweg als symbolische Geste. Doch dieses „El Fortín“ wirkte an diesem Abend nicht wie eine uneinnehmbare Bastion, sondern eher wie ein schwaches Symbol der Hoffnung, die langsam zerfließt. Für die Fans bleibt die Erinnerung an vergangene Erfolge, an Helden wie Chilavert, die mit ihrer Präsenz und ihrem Kampfgeist den Club einst prägten und vielleicht bald wieder den Fußball in Liniers beflügeln können. Der Abend bei Vélez Sarsfield zeigte facettenreich, was argentinischer Fußball neben schnellen Pässen und Toren noch ausmacht.
Es sind die Traditionen, die Verbundenheit der Fans, die kleinen Rituale außerhalb und innerhalb des Stadions – wie der Choripán vor dem Spiel –, und das Strahlen in den Gesichtern der Kinder, die hoffnungsvoll in die Zukunft blicken. Vélez Sarsfield mag auf dem Platz derzeit um Stabilität kämpfen, doch in den Herzen der Anhänger bleibt er ein Club mit großer Geschichte und einer vielversprechenden Zukunft. Ein Besuch bei den „Fortineros“ ist ein unvergleichliches Erlebnis, das alle Fußballfans neben den bekannten Klubs in ihre Agenda aufnehmen sollten.