Das Roskilde Festival in Dänemark ist weit mehr als nur eine Musikveranstaltung. Jährlich zieht es über 130.000 Besucher an und verwandelt die Region temporär in eine der größten Städte Europas. Während viele sich dem grenzenlosen Feiern und der Musik hingeben, gibt es eine Gruppe von Menschen, deren Präsenz oft übersehen wird – die Flaschensammler. Ihr Alltag spiegelt eine ganz eigene Perspektive auf das Festival wider, geprägt von harter Arbeit, Konkurrenz und einem fragilem Gleichgewicht zwischen Freiheit und Überlebenskampf.
Flaschensammeln ist kein neuer Trend. In Ländern mit Pfandsystemen dient das Einsammeln von leeren Flaschen und Dosen seit langem als Nebenverdienst für Menschen am Rande der Gesellschaft. Beim Roskilde Festival sind es vor allem Menschen aus marginalisierten Communities aus Rumänien und Westafrika, die in der Saison hierher reisen, um mit dem Sammeln der Pfandflaschen Geld zu verdienen. Für viele ist es ein wichtiger Einkommensquelle, die monatelang ihre Familien zuhause unterstützt. Doch der Job ist alles andere als leicht.
Über Tage und Nächte hinweg bewegen sich die Sammler ständig zwischen Konzertbühnen, Zelten und den Campingfeldern. Die körperliche Anstrengung ist enorm: schwere Lasten tragen, ununterbrochen aufrecht stehen, durch Schlamm waten und dabei kaum Zeit zum Schlafen finden. Unter ihnen herrscht ein ungeschriebenes Gesetz der Solidarität, denn häufig sind sie in Gruppen unterwegs, die sich gegenseitig unterstützen. Dennoch bestehen in der Gemeinschaft Spannungen, insbesondere zwischen verschiedenen Herkunftsgruppen, etwa zwischen afrikanischen und Roma-Sammlern. Ihr Arbeitstag ist geprägt von der Suche nach Pfandflaschen und -dosen, die viele Festivalbesucher achtlos auf dem Boden liegen lassen.
Dieses Verhalten ist Teil des sogenannten „Orange Feelings“, einem Begriff, der für Lebendigkeit, Freiheit und Unbeschwertheit steht, aber auch Schattenseiten hat. Für die meisten Festivalgäste gehört das achtlose Wegwerfen leerer Getränke zu einem Statussymbol: Es signalisiert, man brauche das Geld nicht. Für die Flaschensammler hingegen ist es buchstäblich Lebensunterhalt. Die gesammelten Flaschen und Dosen werden an sogenannten „Refund-Stationen“ abgegeben. Dort werden die Behälter manuell gezählt, sortiert und der entsprechende Pfandbetrag auf die Festivalarmbänder der Sammler gebucht.
Diese Stationen sind provisorische Schaltzentralen, die von jungen Ehrenamtlichen betrieben werden und auch selbst unter großer Belastung stehen. Die Sammelaktion läuft nonstop, von morgens bis tief in die Nacht, und erzeugt lange Warteschlangen, die sich im Verlauf des Festivals auf viele Stunden ausweiten können. Die Rückgabe von Pfandflaschen ist für die Flaschensammler von zentraler Bedeutung, denn der Erlös ist oft das Einzige, was sie auf dem Festival verdienen. Dies steht in starkem Kontrast zu anderen Festivaljobs wie z.B.
dem Kellnern, die deutlich besser bezahlt werden, aber nicht den Zugang zum Festival ermöglichen oder die nötige Flexibilität mit sich bringen. Trotz der wichtigen Rolle, die Flaschensammler für die Sauberkeit und den Umweltschutz beim Festival spielen, erhalten sie kaum offizielle Anerkennung oder Unterstützung vonseiten der Festivalleitung. Oft schlafen sie auf dem Hauptcampingplatz, sind Wind und Wetter ausgesetzt und haben nur begrenzten Zugang zu Ruhestätten oder sanitären Anlagen. Das äußerst wechselhafte dänische Sommerwetter stellt eine zusätzliche Belastung dar. Regen und niedrige Temperaturen machen die Bedingungen noch härter und führen dazu, dass die Festivalflächen schnell matschig und uneben werden.
Trotzdem bewegen sich die Flaschensammler agil über das Gelände, improvisieren mit Mülltüten als Wetterschutz und sind darauf angewiesen, mit wenig auszukommen. In der Zwischenzeit platzt das Festivalgelände förmlich vor Menschen, Lautstärke und Trubel. Die Musik, das Gemeinschaftsgefühl und die Freiheit ziehen viele in ihren Bann. Für die Flaschensammler jedoch beschreibt die Erfahrung ein ambivalentes Bild. Einerseits sind sie ein Teil dieser Kultur und dieses besonderen Ortes, andererseits erleben sie oft Ausgrenzung und Unsichtbarkeit.
Ihre Arbeit ist im wahrsten Sinne des Wortes das Fundament, auf dem das Festival funktioniert, und doch sind sie im Festivalalltag oft vergessen. Einige von ihnen kehren Jahr für Jahr zurück, trotz der widrigen Umstände. Ihre Hoffnungen ruhen auf dem Versprechen von „gutem Geld“, doch die Realität ist von Konkurrenz und Risiken geprägt. Manche berichten von Tagesschichten von über zehn Stunden mit hohen Sammelquoten, um annehmbare Summen zu erzielen. Die Grenze zwischen Ausbeutung und Selbsterhalt ist dabei oft fließend.
Neben den Flaschensammlern selbst spielt auch das Recyclingmodell des Festivals eine große Rolle. Neben den traditionellen Pfandflaschen werden spezielle Festivalflaschen verwendet, die im Anschluss aufbereitet und im nächsten Jahr wiederverwendet werden. Andere nicht rückgabefähige oder beschädigte Behälter werden recycelt, wenn auch oft nur mit geringem wirtschaftlichen Anreiz für die Sammler. Das Roskilde Festival hat sich in den letzten Jahren verstärkt dem Thema Nachhaltigkeit verschrieben und versucht, die Besucher zur bewussteren Müllentsorgung zu bewegen. Verschiedene Initiativen wie ein „Circular Lab“ oder ökologisch inspirierte Campinggemeinschaften sollen neue Impulse geben.
Doch die große Masse der Festivalbesucher zeigt sich oft wenig sensibilisiert für Umweltfragen und obendrein ist der soziale Status in der Handhabung von Müll weiterhin ein sensibles Thema. Die Gesellschaft insgesamt spiegelt sich in diesem Mikrokosmos der Festivalwelt wider. Hier treffen Welten aufeinander, die aufeinander angewiesen sind, sich aber selten wirklich begegnen. Zwischen der ausgelassenen Freiheit der Festivalbesucher und der ernüchternden Realität der Flaschensammler klafft eine Kluft, die sich nicht einfach schließen lässt. Dennoch sind die Flaschensammler unverzichtbar für den Ablauf des Festivals.
Ohne sie müsste das Gelände von viel mehr Müll beherrscht werden, was den gesamten Festivalcharakter und die Umweltbilanz massiv beeinträchtigen würde. Ihr unsichtbarer Einsatz sorgt dafür, dass der Spirit des „Orange Feelings“ weiter bestehen kann. Während viele Besucher der Wunsch nach Freiheit und Abenteuer treibt, verbindet die Flaschensammler vor allem das Überleben und der Kampf um ein kleines finanzielles Polster. Ihr Alltag ist geprägt von körperlicher Erschöpfung, langen Wartezeiten, harschen Wetterbedingungen und sozialer Unsichtbarkeit – und dennoch setzen sie ihre Arbeit Jahr für Jahr fort. Das Leben eines Flaschensammlers beim Roskilde Festival erzählt eine Geschichte von Ungleichheit, Solidarität, Ausbeutung aber auch von Mut und Widerstandskraft.