An einem kalten Januartag in Nordflorida machte ich mich auf eine außergewöhnliche Reise: Ich fuhr unter einem vollen Mond an stillen Zypressensümpfen und gewundenen Flussmündungen vorbei, um das Gehirn meines verstorbenen Vaters zu besuchen. Während die meisten Menschen ihren Lieben an Grabstätten und Gedenkorten gedenken, suchte ich eine ganz andere Verbindung – zu dem letzten physischen Überbleibsel meines Vaters. Diesen Besuch empfand ich ebenso makaber wie faszinierend, fast so, als würde ich in eine andere Welt eintauchen, eine Welt, in der Erinnerung und Wissenschaft miteinander verschmelzen. Im sogenannten „Bunker“, einer Lagerhalle auf dem Campus der Mayo-Klinik in Jacksonville, empfing mich Professor Michael DeTure, ein erfahrener Neurowissenschaftler. Die Halle beherbergt eine Sammlung von tausenden eingefrorenen Gehirnen, die nur darauf warten, im Angesicht von Krankheiten wie Demenz mehr über das menschliche Denken zu enthüllen.
Mein Vater – Christopher Lehmann-Haupt, ein renommierter Buchkritiker der New York Times – lag hier in einem durchsichtig verschlossenen Plastikbeutel, mit seinem Namen versehen, tiefgefroren in einem weißen Gefrierschrank. Die Begegnung war für mich überwältigend. Das sterile, kalte Zimmer mit seinem stressbasierten Summen wirkte unwirklich, beinahe beängstigend. Doch dann entkam meiner eigenen Bewusstheit der Schock, und eine wärmende Erinnerung durchströmte mich: Ich sah meinen Vater zurückversetzt in die 1970er Jahre am Strand von Cape Cod, wie er uns aus Evelyn Waughs Roman „A Handful of Dust“ vorlas. Diese Erinnerung beruhigte mich und erinnerte mich daran, dass das Gehirn im Tiefkühlfach nicht die Summe des Menschen war, den ich geliebt hatte.
Dieser Besuch war aus mehreren Gründen wichtig für mich. Zum einen wollte ich verstehen, wie das Gehirn meines Vaters der Wissenschaft dienen konnte. Mein Vater hatte sich zeitlebens ehrenamtlich an einer Langzeitstudie zum Altern des Gehirns beteiligt, die am Albert Einstein College of Medicine durchgeführt wurde. Er hatte stets Wert darauf gelegt, seinen Verstand zu testen und seine Denkfähigkeiten zu erhalten, auch wenn er den Kampf gegen Krankheiten wie Demenz vor Augen hatte. Zum anderen suchte ich Antworten auf Fragen, die ich mir seit Jahren stellte: Was vererbte sich in unseren Familiengeschichten? Wie formte das Leben meines Vaters sein Denken und Schreiben? Und schließlich, wie kann Wissenschaft dabei helfen, unsere Beziehung zu unseren Verstorbenen neu zu entdecken? Die neuropathologische Untersuchung seines Gehirns offenbart dabei nicht nur medizinische Fakten, sondern erzählt auch eine Geschichte, die zugleich schmerzlich und berührend ist.
Trotz seines gesunden Geistes bis ins hohe Alter erlitt mein Vater kurz vor seinem Tod zwei Schlaganfälle, die vor allem Bereiche seines Gehirns beschädigten, die für Sprache und Erinnerung entscheidend sind. Die linke Hemisphäre, wo sich unter anderem Broca- und Wernicke-Areal befinden, verlor seine Fähigkeit, Gedanken in Worte zu fassen – eine tragische Ironie für einen Mann, dessen Leben von Sprache und Literatur geprägt war. Seine letzten Tage im Krankenhaus waren still, innerlich gefangen in einem Körper, der nicht mehr kommunizieren konnte. Eine überraschende Erkenntnis aus dem Autopsiebericht war das Vorhandensein von Fremdmaterialien in seinem Gehirn, vermutlich Polymerpartikel, die von einem medizinischen Katheter stammten. Diese kleinen Partikel könnten weitere Gefäßverschlüsse verursacht haben, wodurch sich das Risiko und die Verletzungen verschärften.
Diese Tatsache wirft ein beunruhigendes Licht auf medizinische Behandlungsmethoden und die Risiken, die oft unentdeckt bleiben. Die meisten Ärzte seien sich dieses Problems nicht bewusst, erklärte mir ein Forscher, der sich mit den Folgen solcher Materialabbrüche beschäftigt. Trotz all dieser tragischen Details ist das Gehirn meines Vaters in der wissenschaftlichen Gemeinschaft ein wertvolles Stück, insbesondere weil es keine Anzeichen von Alzheimer oder anderen neurodegenerativen Erkrankungen aufweist. Es dient nun als sogenanntes „gesundes Kontrollgewebe“, das es Forschern ermöglicht, die Unterschiede zwischen krankhaftem und gesundem Gewebe zu erkennen und so besser zu verstehen, wie Krankheitserreger unser Denken beeinflussen. Dieses Erbe, so befreiend und zugleich ernüchternd es auch sein mag, ermöglicht es, dass sein Verstand auch über seinen Tod hinaus auf eine Weise weiterlebt, die Wissenschaft und Menschlichkeit verbindet.
Der Besuch im Hirnarchiv gab mir außerdem die Gelegenheit, über den Umgang mit Erinnerung und Identität nachzudenken. Während mein Vater in seinem Leben ein Mann der klaren Worte war, bleibt das Gehirn als organisches Archiv all der Erfahrungen und Geschichten, die einen Menschen ausmachen. Gegenüber den biochemischen Aktivitäten und neuronalen Netzwerken wirkte das „Selbst“, das wir im Leben wahrnehmen, zerbrechlich und doch faszinierend stabil. Die Vorstellung, dass das, was ihn als Mensch ausmachte, in Form von Markern auf mikroskopischen Gewebeschnitten weiterexistiert, öffnete einen neuen Zugang zu meiner Trauer und auch zu einem Selbsterkenntnisprozess. Darüber hinaus zeigt der Besuch, wie eng Wissenschaft und persönliche Geschichte miteinander verwoben sind.
Mein Vater war nicht nur mein Elternteil, sondern auch ein engagierter Bürger, dessen Lebenswerk und privates Leben von einem tiefen Engagement für Literatur, Kultur und Wissenschaft geprägt war. Seine Teilnahme an der Hirnalterungsstudie war für ihn mehr als nur ein medizinisches Protokoll – es war die Möglichkeit, einen Beitrag zu einer größeren Gemeinschaft zu leisten, die versuchen will, das menschliche Gehirn und seine Geheimnisse zu ergründen. Die Verbindung zwischen wissenschaftlichen Erkenntnissen und emotionaler Verarbeitung ist in diesem Kontext untrennbar. Es war befremdlich und doch tröstlich zu wissen, dass sogar die Sprache, die er so sehr liebte, letztlich eine Funktion bestimmter Hirnareale ist – und dass Verlust derselben den tiefsten Ausdruck seiner Identität berührte. Zugleich bleibt die Hoffnung, dass diese Forschung eines Tages dazu beitragen wird, besser mit den Krankheiten umzugehen, die hunderte Millionen Menschen weltweit und ihre Familien betreffen.
Die Reflexion über Leben, Tod und Erinnerung endete für mich auch mit dem Bewusstsein, dass mein Vater in gewisser Weise unsterblich ist. Seine Worte sind archiviert und werden weiterhin gelesen, analysiert und bewahrt. Seine Gehirnproben tragen zur Erforschung bei, seine Asche wartet darauf, an einem Fluss verstreut zu werden, wo er im Leben seine Freizeit verbrachte. In der Philosophie ist dies ein Spiegelbild von René Descartes’ Trennung von Körper und Geist, aber auch eine Einladung zu neuer Demut vor der enigmatischen Fähigkeit des Menschen, über sich hinauszuwachsen. Diese Reise zu meinem Vater, zu seinem Gehirn und seiner Lebensgeschichte war für mich eine Begegnung mit dem Ganzen: Der Verbindung zwischen Wissenschaft, Liebe, Erinnerungen und der unausweichlichen Vergänglichkeit.
Sie brachte mir mehr Verständnis für ihn und zugleich für mich selbst. Es ist eine Erfahrung, die zeigt, dass selbst im Angesicht des Endes Geschichten weitergeführt werden – in Wissenschaft, in Kunst und vor allem im menschlichen Herzen. Diese Geschichte erinnert daran, wie eng unsere biografischen Erzählungen mit unserem biologischen Erbe verbunden sind und wie Wissenschaft und Menschlichkeit gemeinsam Tod und Erinnerung gestalten können. Es ist ein Aufruf, sowohl die körperlichen wie auch die seelischen Aspekte des Menschseins zu ehren und die Geschenke der Vergangenheit als Wegweiser für die Zukunft zu sehen.