Im Jahr 2018 veröffentlichte Netflix eine der kühnsten und experimentellsten Episoden seiner Zeit: "Bandersnatch", ein Spin-off der gefeierten Serie "Black Mirror". Dieses interaktive Filmprojekt, entwickelt von Charlie Brooker und unter der Regie von David Slade, stellte eine revolutionäre Neuerung im Bereich des digitalen Entertainments dar. Es verband das Konzept eines Films mit der Mechanik eines Choose-Your-Own-Adventure-Buches, bei dem die Zuschauer aktiv in den Verlauf der Handlung eingreifen konnten. Nun steht fest, dass Netflix dieses mutige Experiment aus seinem Katalog streichen wird – eine Entscheidung, die viele Fans und Medienexperten gleichermaßen überrascht und nachdenklich stimmt. "Bandersnatch" dreht sich um Stefan, einen jungen Computerprogrammierer, dessen Leidenschaft es ist, eines seiner Lieblingsbücher, auch mit dem Namen "Bandersnatch", in ein Videospiel umzuwandeln.
Das Setting ist das Jahr 1984, zu einer Zeit, als solche Spiele noch eine Neuheit waren. Stefan arbeitet mit Colin, einem erfahrenen Spieledesigner, zusammen, wobei die beiden Protagonisten ständig aneinandergeraten, insbesondere in Bezug auf die künstlerische Freiheit und die kommerziellen Zwänge des Projekts. Das Besondere ist, dass die Zuschauer während des Films Entscheidungen für Stefan treffen und somit den Fortgang der Geschichte beeinflussen können. Diese interaktive Form des Erzählens verlangt vom Zuschauer ein aktives Mitwirken, was das Filmerlebnis grundlegend verändert und erhöht. Technisch war "Bandersnatch" ein Mammutprojekt, denn die Gesamtlänge aller inhaltlichen Verzweigungen summiert sich auf mehr als fünf Stunden, obwohl die meisten Zuschauer etwa 90 Minuten benötigen, um eine einzige Version des Films zu erleben.
Die Interaktivität setzte voraus, dass Zuschauer zu Hause und mit kompatiblen Geräten zugriff hatten, wodurch das Format im Kino nicht funktioniert hätte. Doch "Bandersnatch" soll mehr sein als nur ein spielerischer Einsatz neuer Technik: Es hinterfragt die Natur von Entscheidungsfreiheit und Kontrolle, sowohl innerhalb der Geschichte als auch im realen Leben. Neben "Bandersnatch" hat Netflix im Laufe der Zeit mehrere sogenannte Interactive Specials veröffentlicht, viele davon besonders für jüngere Zuschauer konzipiert. Titel wie "Puss in Book", ein Spin-off aus der "Shrek"-Reihe, oder das interaktive "Minecraft: Story Mode" zeigen, dass Netflix das Konzept eines interaktiven Zuschauens in verschiedenen Genres und Altersgruppen testete. Neben Kinderangeboten gab es auch Erwachsene ansprechende Formate, beispielsweise eine interaktive Episode von "The Unbreakable Kimmy Schmidt" namens "Kimmy vs.
The Reverend" und Dokus wie die Reihe "You Vs. Wild" mit Bear Grylls. Der Reiz an den interaktiven Specials lag für Netflix in der Kombination aus Film und Videospiel – zwei Medienwelten, die hier miteinander verschmolzen wurden. Das Konzept schien ideal, um dem heutzutage häufig abgelenkten Zuschauer die volle Aufmerksamkeit abzuringen. Während ein klassischer Film oft im Hintergrund läuft, zwang die Interaktivität die Nutzer zu Engagement und Entscheidungen, was neue narrative Möglichkeiten eröffnete.
Doch trotz anfänglicher Begeisterung steht nun das Aus dieser interaktiven Geschichten bevor. Wie ein Bericht der A.V. Club kürzlich enthüllte, ist Netflix dabei, die meisten dieser Interactive Specials aus seiner Streamingbibliothek zu entfernen. Technische Umstellungen in der Benutzeroberfläche, einhergehend mit einer umfassenden Überarbeitung des Designs, erschweren das Navigieren durch solche komplex verschachtelten Erzählungen.
Die neuen Technologien sind offenbar nicht mit den interaktiven Strukturen kompatibel, weshalb eine Fortsetzung dieser Inhalte auf der Plattform nicht realistisch erscheint. Neben der veränderten Nutzeroberfläche spielt wirtschaftliche Überlegung eine zentrale Rolle. Netflix setzt immer stärker auf die Produktion und Vermarktung von Mobile Games, die auf ihren eigenen IPs basieren. Aktuell betreibt das Unternehmen rund 120 mobile, interaktive Spiele. Dieser Markt scheint für Netflix lukrativer als das Pflegen eines umfangreichen Archivs interaktiver Filme und Serien.
Im Gegensatz zu den aufwendigen Filmproduktionen bieten diese Spiele eine bessere Monetarisierungschance und eine direkte Einbindung in das Gaming-Ökosystem. Der Schritt Netflix’ bedeutet eine fragwürdige Zäsur in der Geschichte des interaktiven Erzählens im Mainstream. Schon lange experimentieren Filmemacher mit der Interaktivität in Filmen: In den 1950er Jahren wurden interaktive Vorführungen diskutiert, und 1961 brachte William Castle mit seinem "Punishment Poll" eine frühe Form des Publikums-Votings in "Mr. Sardonicus" auf die Leinwand. Auch die LaserDisc-Technologie der 1980er Jahre, vor allem in Japan, diente als Spielwiese für interaktive narrative Experimente.
1995 wurde sogar ein Film namens "Mr. Payback" in Kinos mit Publikumsabstimmung getestet, jedoch ohne großen Erfolg. Diese Versuche, die Geschichten dynamisch zu gestalten, sind seit Jahrzehnten Teil der Filmgeschichte, aber nie wirklich im Mainstream angekommen. "Bandersnatch" war der bisher ambitionierteste und erfolgreichste Versuch, die interaktive Filmform in die digitale Ära zu überführen. Es bleibt abzuwarten, ob das Medium nach Netflix’ Rückzug eine zweite Chance erhält oder ob die Zukunft interaktiver Geschichten vor allem in Videospielen liegt.
Für Fans und Medienbeobachter stellt sich jetzt die Frage, wie sie "Bandersnatch" und ähnliche Werke in Zukunft erleben können. Vielleicht wird das Konzept als Spiel neu aufgelegt oder in einem anderen Medium weiterentwickelt. Die technische Herausforderung bei der Wiedergabe auf Streaming-Plattformen ohne spezielle Benutzeroberflächen bleibt jedoch bestehen. Für die Filmindustrie ist es eine Erinnerung daran, dass neue Ideen oft über kurz oder lang wieder verschwinden, wenn die Technologie oder der Markt nicht mithalten können. Bis Netflix seine Interactive Specials löscht, bleiben die letzten Chancen, einen einzigartigen Einblick in die spannende Symbiose von Fernsehserien und Videospielen zu erhalten.
"Bandersnatch" hat dabei mehr als nur eine Geschichte erzählt: Es hat eindrucksvoll gezeigt, welches Potenzial in der Verschmelzung verschiedener Erzählformen steckt und wie das Publikum aktiv Teil einer Geschichte werden kann. Dass diese Ära nun zu Ende geht, ist bedauerlich, aber auch ein Ansporn für andere kreative Köpfe, neue Wege der Interaktivität zu erkunden und vielleicht die interaktive Filmwelt eines Tages zurückzubringen.