Die Sozialwissenschaften gelten als essenzielles Werkzeug, um das Verhalten von Gesellschaften besser zu verstehen und politische Entscheidungen zu informieren. Dennoch stehen sie heutzutage vor einer fundamentalen Krise – der sogenannten Krise der Zombie-Sozialwissenschaften. Der Begriff „Zombie-Forschung“ beschreibt dabei Theorien und Ansätze, die trotz widerlegender Erkenntnisse weiterhin in der Forschung und Öffentlichkeit zirkulieren. Sie sterben nicht, obwohl sie eigentlich längst hätten widerlegt werden müssen. Das Problem dabei ist, dass diese veralteten oder falschen Theorien oft die Grundlage für politische und soziale Entscheidungen bilden, die unser tägliches Leben beeinflussen.
Doch warum ist es so schwierig, in den Sozialwissenschaften eine klare und verlässliche Wahrheit zu finden? Und wie lässt sich dieser scheinbar lähmende Zustand überwinden? Eine Analyse zeigt vor allem, dass die großen Herausforderungen weniger mit der willenlosen Wissenschaftsgemeinschaft oder Intellektuellenmangel zu tun haben. Vielmehr sind sie tief in der Komplexität menschlicher Gesellschaften selbst und den methodischen Grenzen sozialwissenschaftlicher Forschung verwurzelt. Anders als in den Naturwissenschaften, wo Modelle und Theorien anhand von klar definierten, wiederholbaren Experimenten mit hohem Maß an Präzision geprüft und gegebenenfalls widerlegt werden können, befinden sich Sozialwissenschaften oft in einem Nebel aus Unsicherheiten, variablen Faktoren und subjektiven Interpretationen. Menschliches Verhalten ist kein Naturgesetz, das sich ebenso einfach isolieren und testen lässt wie physikalische Phänomene. Die Gesellschaft ist ein sich ständig wandelndes System mit Milliarden von wechselwirkenden Individuen, Kulturen und Einflussgrößen.
Zudem erschwert der Umstand, dass viele wichtige gesellschaftliche Entwicklungen und Ereignisse Einmalereignisse sind, die sich nicht wiederholen lassen, das Prüfen von Theorien erheblich. Politische Veränderungen, Wirtschaftskrisen oder Pandemieausbrüche sind Ereignisse, deren Wirksamkeit von Maßnahmen oft nicht im Labormaßstab validiert werden kann. Dieser Kontext ermöglicht es, dass verschiedene Forschergruppen auf identischen Datensätzen dennoch zu völlig unterschiedlichen, oft gegensätzlichen Schlussfolgerungen kommen. Ein Beispiel hierfür ist eine Studie, in der über siebzig Forscherteams die gleiche Fragestellung mit der identischen Datengrundlage bearbeiteten, aber zu komplett divergierenden Ergebnissen gelangten – von positiv bis negativ oder neutralen Effekten. Diese enorme Streuung verdeutlicht, wie Entscheidungen bei der Datenanalyse und Methodenauswahl die Forschungsergebnisse massiv beeinflussen und wie sachfremde Faktoren – wie politische Überzeugungen oder ideologische Präferenzen – die Interpretation von Wissenschaft prägen können.
Zusätzlich erschweren Forschungspraktiken wie das sogenannte p-Hacking, bei dem statistische Ergebnisse manipuliert oder je nach Interesse interpretiert werden, die Verlässlichkeit der Erkenntnisse. Auch das Dilemma eines oft versagenden Peer-Review-Systems, Fehlanreizstrukturen in der Wissenschaft und mangelnde Reproduzierbarkeit von Befunden sind wichtige Faktoren, die die Glaubwürdigkeit sozialwissenschaftlicher Forschung untergraben. Diese Zustände tragen dazu bei, dass schlechte oder falsche Theorien über Jahrzehnte fortbestehen – und damit den Begriff der Zombie-Theorien verdienen. Dabei ist die Wiederholung von Ergebnissen und die vorwärtsschauende Vorhersage von sozialen Entwicklungen ein entscheidender Schlüssel, um Theorien zu verifizieren oder zu verwerfen. In den Sozialwissenschaften fehlen solche Vorhersagen nahezu vollständig, was die Fachdisziplin weiter in einer Art Stagnation gefangen hält.
Die Sozialforscher oft nur rückblickend Situationen zu deuten, statt zukünftige Ereignisse zuverlässig vorherzusagen. Dabei hat gerade die Vorhersagekraft von Wissenschaft eine enorme Bedeutung für Politik und Gesellschaft: Nur wenn klar bewiesen ist, welche Maßnahmen wirkungsvoll und welche wirkungslos oder sogar schädlich sind, können Ressourcen effizient eingesetzt und Zielkonflikte transparent gemacht werden. Die Krise der Zombie-Sozialwissenschaften wird so zu einer Gefahr für die Demokratie und den gesellschaftlichen Fortschritt. Ein weiteres Problem liegt in der sehr begrenzten Möglichkeit, in gesellschaftlichen Studien strikte Kontrollgruppen einzurichten. Diese werden in der Medizin genutzt, um den Effekt einer Behandlung gegenüber einer unbehandelten Gruppe eindeutig zu konservieren.
Gesellschaftliche Experimente mit klaren Kontroll- und Testgruppen sind häufig nicht durchführbar oder ethisch nicht vertretbar. Stattdessen muss auf Beobachtungsstudien mit hoher Unsicherheit zurückgegriffen werden. Deshalb sind die sozialwissenschaftlichen Modelle oft unpräzise und fragil, ihre Ergebnisse kontextabhängig. Auch die zunehmende Komplexität moderner Gesellschaften, verstärkt durch Globalisierung, Digitalisierung und gesellschaftlichen Wandel, erhöht die Unsicherheiten zusätzlich. Besonders brisant wird die Lage, weil die politische Debatte oft von ideologischen Auseinandersetzungen geprägt ist und empirische Evidenz schnell verwässert oder ignoriert wird, wenn sie nicht ins Weltbild der jeweiligen Akteure passt.
Das bedeutet, dass selbst klar belegte Forschungsergebnisse nicht automatisch zu Veränderung oder Reform führen. Der Autor und Sozialwissenschaftler Brian Klaas betont, dass die Lösung nicht darin liegt, Sozialwissenschaften zu entwerten oder nach einfachen Antworten zu suchen. Vielmehr ist es unerlässlich, die Disziplin selbstkritisch weiterzuentwickeln und rigoros daraufhin zu arbeiten, den Anteil an Zombie-Theorien deutlich zu reduzieren. Dies gelingt vor allem durch weniger dogmatisches Denken, verstärkte Replikationsstudien und durch eine konsequente Fokussierung auf Vorhersagen, die getestet werden können – auch wenn diese anfangs häufig falsch sind. Nur auf diesem Wege kann die Sozialwissenschaft durch iteratives Lernen wirklich bessere Modelle entwickeln, die der Komplexität der Gesellschaft gerecht werden und verlässlichere Orientierung bieten.
Zudem sollten soziale Forschungen klar darauf ausgerichtet sein, konkrete gesellschaftliche Probleme zu lösen und damit einen Nutzen für die Menschen zu stiften – nicht nur abstrakte oder isolierte Erklärungen vergangener Ereignisse liefern. Um es mit einem Vergleich zu umreißen: Während Ingenieure trotz aller Unsicherheiten am Ende dennoch Brücken bauen, die halten, muss Sozialwissenschaft sich ebenfalls an messbaren Ergebnissen orientieren, die wirksam praktische Folgen haben. Ein weiteres wichtiges Element ist die Förderung von Transparenz und Offenheit in der Forschung. Der freie Zugang zu Forschungsdaten, die Veröffentlichung von negativen Ergebnissen und eine offene Diskussion über Methoden sind entscheidend, um systematische Fehler und Scheinzusammenhänge zu erkennen und auszumerzen. Auch die Vernetzung von Wissenschaft mit der Öffentlichkeit und die Schulung von Medien im Umgang mit sozialwissenschaftlichen Erkenntnissen tragen dazu bei, dass Forschungsergebnisse besser verstanden, nicht missbraucht oder falsch dargestellt werden.
Die aktuellen Herausforderungen verlangen zudem eine stärkere interdisziplinäre Zusammenarbeit, bei der Sozialwissenschaften sich mit den Naturwissenschaften, der Mathematik, der Informatik und der Komplexitätsforschung verbinden, um gemeinsam adäquate Werkzeuge zu entwickeln, die der Dynamik menschlicher Gesellschaft Rechnung tragen. Gerade datengetriebene Methoden, zum Beispiel aus dem Bereich des maschinellen Lernens und der Künstlichen Intelligenz, bieten neue Chancen, müssen aber mit gesundem Skeptizismus und methodischer Strenge eingesetzt werden, um nicht zu falschen Schein-Erkenntnissen zu führen. Letztlich steckt in der Krise der Zombie-Sozialwissenschaften auch eine Chance für einen tiefgründigen Wandel: Hin zu einer Wissenschaft, die trotz aller Unwägbarkeiten pragmatisch arbeitet, offen mit Unsicherheit umgeht und deren Ziel es ist, realen gesellschaftlichen Mehrwert zu schaffen. Nur so kann Sozialwissenschaft aus dem Schatten unreflektierter Ideologien und unpassender Dogmen heraustreten und zu einem unverzichtbaren Kompass in einer immer komplexer werdenden Welt werden. Die Zukunft der Gesellschaft hängt davon ab, dass wir den Mut finden, alte Zöpfe abzuschneiden und sozialwissenschaftlicher Forschung die dringend notwendige Reform zu ermöglichen.
Nur dann können wir verhindern, dass wir weiterhin in einem Kreislauf aus widersprüchlichen, unzuverlässigen Theorien gefangen bleiben und wirksam Politik gestalten, die den Herausforderungen der Gegenwart und Zukunft gerecht wird.