Im Jahr 2004 jährte sich zum hundertsten Mal die Veröffentlichung von Ernst Zermelos berühmtem Auswahlaxiom, das seitdem eine zentrale Rolle in der Mathematik einnimmt. Trotz seines allgegenwärtigen Einflusses hat dieser Grundsatz von Anfang an für kontroverse Diskussionen gesorgt – und tut das bis heute. Besonders in den Bereichen der konstruktiven Mathematik und der Typentheorie zeigt sich, dass Zermelos Axiom nicht ohne Weiteres mit allen mathematischen Denkweisen vereinbar ist. Um die Hintergründe und Herausforderungen besser zu verstehen, lohnt sich eine historische und theoretische Analyse dieses fundamentalen Satzes. Georg Cantor hatte Ende des 19.
Jahrhunderts, genauer gesagt in den 1880er Jahren, die Theorie der Mengen entscheidend geprägt. Er formulierte unter anderem das Prinzip, dass jede Menge wohlgeordnet werden kann. Diese Annahme, die er zunächst als eine Art Denkgesetz betrachtete, stellte bald eine der großen offenen Fragen der Mathematik dar. Es blieb unbeantwortet, ob sich das Wohlordnungsprinzip überhaupt beweisen lässt. Zermelo gelang es 1904, diese Lücke durch Einführung eines neuen Prinzips, heute bekannt als das Auswahlaxiom, zu schließen.
Dieses besagt vereinfacht, dass es möglich ist, aus jeder nichtleeren Menge ein Element auszuwählen, auch wenn diese Auswahl nicht explizit konstruiert werden kann. Zermelos zunächst kurze Veröffentlichung zeigte jedoch bereits den Kern des Problems: Das Auswahlaxiom ist nicht unmittelbar selbstevident und wirft tiefergehende Fragen zur mathematischen Existenz und Beweisbarkeit auf. In den folgenden Jahren entbrannte unter führenden Mathematikern wie Hausdorff, Lebesgue, Brouwer und Russell eine lebhafte Debatte über die Gültigkeit und die philosophische Vertretbarkeit dieses Axioms. Während es in der klassisch-mathematischen Gemeinschaft nach und nach akzeptiert wurde, lehnten die Intuitionisten das Prinzip strikt ab. Sie argumentierten, dass das Auswahlaxiom nicht konstruktiv ist, also nicht mit der Idee vereinbar, eine mathematische Behauptung erst dann als wahr anzusehen, wenn man eine explizite Konstruktion vorlegen kann.
Der Unterschied zwischen klassischer und konstruktiver Mathematik zeigt sich besonders deutlich im Umgang mit dem Auswahlaxiom. Klassisch formuliert garantiert das Axiom die Existenz einer Wahlfunktion, ohne diese konkret anzugeben. In der konstruktiven Sichtweise, wie sie von Per Martin-Löf im Bereich der Typentheorie vertreten wird, ist dagegen die Existenz nur dann akzeptabel, wenn eine konkrete Wahlprozedur konstruiert werden kann. Martin-Löf prägt hier den Begriff der intensionalen (konstruktiven) Wahl, die sich von Zermelos extensionaler Form unterscheidet. Diese Differenz ist entscheidend, da das klassische Auswahlaxiom Extensionalität verlangt – die Eigenschaft, dass Funktionen gleich sind, wenn sie auf gleiche Argumente gleiche Werte liefern.
Konstruktiv gesehen lässt sich dies jedoch nicht ohne weiteres erzwingen, da die Wahlfunktion nicht notwendigerweise so beschaffen ist. Eine tiefergehende Formalisierung und Analyse des Auswahlaxioms erfolgte im Laufe des 20. Jahrhunderts durch Einbettung in konstruktive Typentheorie. Dort zeigt sich, dass das ursprüngliche Auswahlaxiom, wie Zermelo es formulierte, in der konstruktiven Welt nicht beweisbar ist, weil es der Forderung nach Extensionalität nicht genügt und somit „etwas aus dem Nichts erzeugt“. Stattdessen wurde das sogenannte intensional-konstruktive Auswahlaxiom entwickelt, das auf der berühmten Brouwer-Heyting-Kolmogorov-Interpretation von Aussagen besteht.
Diese legt nahe, dass die Existenz von Wahlfunktionen unmittelbar aus der konstruktiven Bedeutung von Existenzabbildungen folgt, ohne weitere nicht-konstruktive Annahmen einzuführen. Probleme ergeben sich auch in der Verbindung von Auswahlaxiom und Logik. Diaconescus Satz aus den 1970er Jahren zeigt, dass in jedem topos-theoretischen Rahmen, also einer abstrakten ausdrucksstarken Formulierung von Mathematik, das Auswahlaxiom die klassische Logik mit dem Gesetz vom ausgeschlossenen Dritten erzwingt. Das heißt, man verliert die intuitionistische Logik und damit die konstruktive Sichtweise. Dies ist ein zentraler Kritikpunkt an Zermelos Formulierung, denn gerade der Verzicht auf nicht-bauliche Prinzipien ist für einige Gebiete der Mathematik essenziell.
Die Lösungsmöglichkeit liegt in der Einführung eines extensionalen Auswahlaxioms, das stärker auf die Funktionseigenschaften eingeht, sowie in der axiomatischen Festlegung, dass Wahlfunktionen extensional sein müssen. Diese stärkere Forderung ist jedoch nur mit zusätzlicher Annahme beweisbar und führt wiederum zu einem implementierbaren Kompromiss zwischen klassischer und konstruktiver Mathematik. Unter diesem Blickwinkel lässt sich Zermelos ursprüngliche Idee als der extensionalen Version dieses Axioms verstehen, welche die klassischen Theorien, einschließlich Zermelo-Fraenkel-Mengenlehre mit Auswahlaxiom (ZFC), formal untermauert und damit die Grundlage für die moderne Mengenlehre bildet. Martin-Löfs Arbeit aus dem Jahr 2006 unterstreicht, dass das eigentliche Problem des Zermeloschen Auswahlaxioms weniger in der Existenz der Wahlfunktion liegt, sondern in deren Extensionalität. Im Gegensatz zur intensionalen, konstruktiven Wahl, die über eine konkrete Bauanleitung verfügt, erfordert die klassische Behandlung, dass Wahlfunktionen auch über Äquivalenzklassen hinweg eindeutig und widerspruchsfrei sind.
Dies ist im konstruktiven Sinne nicht ohne Weiteres realisierbar. Die Konsequenzen dieser Erkenntnisse sind weitreichend. Zum einen bestätigen sie, warum das Auswahlaxiom so fundamental und zugleich so problematisch ist. Zum anderen fördern sie ein besseres Verständnis der Grenzen und Möglichkeiten konstruktiver Mathematik und ihrer Systeme, wie etwa der Typentheorie, die heute in vielen Bereichen der theoretischen Informatik und formalen Verifikation Anwendung findet. Darüber hinaus hat das Auswahlaxiom eine zentrale Rolle bei der Interpretation klassischer Mengenlehre in konstruktiven Kontexten gespielt.
Peter Aczel beispielsweise hat gezeigt, wie ZF und sogar ZFC im Rahmen konstruktiver Typentheorie interpretiert werden können, vorausgesetzt es wird eine extensional stark formulierte Form des Auswahlaxioms angenommen. Diese Brücke zwischen klassischer und konstruktiver Sichtweise hat wesentlich zur Weiterentwicklung der Grundlagen der Mathematik beigetragen. Nicht zuletzt bleibt das Auswahlaxiom ein Paradebeispiel dafür, wie philosophische und logische Überlegungen speziell im 20. Jahrhundert die mathematische Praxis nachhaltig beeinflusst haben. Die Diskussion um Zermelos Axiom führte zu einer besseren Unterscheidung von Beweiskonzepten, einer Klarheit über die Natur mathematischer Existenz und verstärkte Bemühungen, Mathematik in verschiedensten logischen und semantischen Systemen zu verstehen.
Zwischenzeitlich wissen wir, dass Zermelos Auswahlaxiom in der klassischen Mathematik fast unverzichtbar ist – es ist Grundlage für komfortable Beweise etwa im Topologie-, Algebra- und Funktionalanalysisbereich. Dennoch warnen konstruktive Theorien davor, das Axiom unkritisch zu übernehmen. Sie zeigen den Preis für diese Annahme: den Verzicht auf die ausschließliche konstruktionelle Begründung von mathematischen Objekten. Das 100-jährige Jubiläum von Zermelos Auswahlaxiom ist daher nicht nur ein Anlass zum Feiern einer der wichtigsten Ideen der Mathematikgeschichte, sondern auch zur kritischen Reflexion. Es lädt Mathematikerinnen und Mathematiker ein, sowohl die klassische als auch die konstruktive Seite der Mathematik lebendig zu halten und ihre Grundlagen differenziert zu betrachten.
Das Verständnis der vielfältigen Axiome der Wahl, ihrer Versionen und Konsequenzen hält die Mathematik auf einem soliden und vielfältigen Fundament – offen für neue Erkenntnisse und Entwicklungen.