Die Mittelschicht wird in den Vereinigten Staaten seit Jahrzehnten als Symbol wirtschaftlicher Stabilität und sozialer Sicherheit angesehen. Viele Amerikaner identifizieren sich stolz mit dem Begriff „Mittelschicht“ und sehen darin ein Lebensmodell, das Wohlstand, finanzielle Sicherheit und Aufstiegschancen vereint. Doch aktuelle Forschungsergebnisse des Pew Research Centers werfen ein kritisches Licht auf diese Selbstwahrnehmung. Laut Analyse der Regierungsdaten fällt fast die Hälfte der amerikanischen Haushalte nicht in die tatsächlich definierte Kategorie der Mittelschicht. Dieser Befund wirft zahlreiche Fragen auf: Wie wird Mittelschicht definiert? Welche Rolle spielt sie heute in der Gesellschaft? Und wie wirkt sich diese Verschiebung auf die soziale und wirtschaftliche Struktur der USA aus? Die Antworten sind komplex und zeigen deutlich, dass das Bild der amerikanischen Mittelschicht im Wandel ist und sich zunehmend verändert.
Die Definition der Mittelschicht ist längst nicht so eindeutig, wie der gebräuchliche Gebrauch des Wortes vermuten lässt. Das Pew Research Center definiert die Mittelschicht vor allem anhand des Haushaltsnettoeinkommens: Sie umfasst Haushalte mit einem Einkommen von mindestens zwei Dritteln bis zu doppelt so viel des mittleren Einkommens des Landes. Für das Jahr 2022 liegt die Spanne demnach zwischen etwa 56.600 und 169.800 US-Dollar.
Wer innerhalb dieses Bereichs verdient, gilt statistisch als Mittelschicht. Überraschenderweise erfüllten im Jahr 2023 lediglich 51 Prozent der Haushalte in den USA diese Kriterien. Diese Zahl steht im Kontrast zur subjektiven Wahrnehmung vieler Menschen. Verschiedene Umfragen zeigen, dass mehr als die Hälfte der Amerikaner sich selbst als Teil der Mittelschicht ansehen, obwohl sie objektiv darunter oder darüber liegen. Diese Diskrepanz zwischen Selbstbild und Realität hat verschiedene Ursachen.
Zum einen scheint die Einkommensverteilung immer ungleicher zu werden, was es für viele Haushalte immer schwieriger macht, in der Mittelschicht zu bleiben oder aufzusteigen. Die Entwicklung der vergangenen fünf Jahrzehnte zeigt eine klare Tendenz: Während Anfang der 1970er Jahre noch über 60 Prozent der amerikanischen Familien zur Mittelschicht gehörten, sind es heute nur noch etwas mehr als die Hälfte. Gleichzeitig wachsen sowohl die unteren als auch die oberen Einkommensgruppen kontinuierlich. Das obere Einkommenssegment hat seinen Anteil auf etwa 19 Prozent erhöht, während der Anteil der unteren Einkommensklassen auf rund 30 Prozent gestiegen ist. Diese Verschiebung deutet auf eine zunehmende Polarisierung hin, die das soziale Gefüge der USA herausfordert.
Die wachsende Kluft zwischen arm und reich hat tiefgreifende Folgen für die Gesellschaft. Familien in der unteren Einkommensgruppe kämpfen zunehmend mit Problemen wie Schulden, mangelnder Vorsorge und unsicherer Beschäftigung. Viele berichten davon, finanziell kaum voranzukommen oder sich ständig am Limit zu bewegen. Laut einer Umfrage der National Foundation for Credit Counseling fühlen sich über die Hälfte der Erwachsenen in den USA finanziell stagnierend, während fast die Hälfte angibt, ständig „finanziell über Wasser bleiben zu müssen“. Diese Situation erschwert nicht nur die Lebensqualität, sondern schränkt auch die Möglichkeiten ein, Vermögen aufzubauen oder langfristige Pläne wie den Erwerb von Wohneigentum oder eine private Altersvorsorge zu realisieren.
Die Mittelschicht wird dadurch immer stärker „zusammengedrückt“. Steigende Lebenskosten, insbesondere im Bereich Wohnen, Gesundheit und Bildung, sorgen dafür, dass selbst Haushalte mit einem mittleren Einkommen sich oft finanziell belastet fühlen. Gleichzeitig wachsen die Erwartungen an die finanzielle Selbstständigkeit und Eigenverantwortung, etwa bei der Altersvorsorge oder Gesundheitsvorsorge. Diese Herausforderungen zeigen, dass die Mittelschicht nicht nur zahlenmäßig schrumpft, sondern auch mit größeren Unsicherheiten konfrontiert ist. Ein weiterer wichtiger Aspekt ist die Selbstwahrnehmung der Amerikaner.
Obwohl fast die Hälfte objektiv gesehen nicht zur Mittelschicht gehört, beschreibt sich ein ähnlich großer Anteil selbst als „middle class“. Dies zeugt von einer starken kulturellen und gesellschaftlichen Identifikation mit diesem Begriff, die eng mit dem amerikanischen Traum und dem Ideal sozialer Mobilität verbunden ist. Das Streben danach, zur Mittelschicht zu gehören oder darin zu verbleiben, ist ein wichtiger Bestandteil vieler Lebensentwürfe und politischer Diskussionen. Zugleich kann diese Diskrepanz zwischen Wahrnehmung und Realität zu politischer Instabilität beitragen, wenn sich immer mehr Menschen abgehängt fühlen, ungeachtet ihrer Selbstbezeichnung. Die Verschiebungen in der Einkommensstruktur und die Unsicherheiten der Mittelschicht wirken sich ebenfalls auf den Konsum und die Wirtschaft aus.
Da Haushalte mit mittlerem Einkommen häufig die treibenden Kräfte des Binnenkonsums sind, kann ein Rückgang ihrer Kaufkraft langfristig negative Effekte auf das Wirtschaftswachstum haben. Unternehmen und politische Entscheidungsträger sehen sich deshalb vor der Herausforderung, Maßnahmen zu ergreifen, die die Mittelschicht stärken, etwa durch Bildung, Sozialleistungen oder Steuerpolitik. Die anhaltende wirtschaftliche Polarisierung macht auch die politische Landschaft der USA komplexer. Politiker aller Parteien müssen die Sorgen und Bedürfnisse der schrumpfenden Mittelschicht stärker berücksichtigen, da sie eine Kernwählergruppe darstellt. Themen wie bezahlbares Wohnen, Gesundheitsversorgung, Lohnentwicklung und Bildung stehen deshalb zunehmend im Fokus von Wahlprogrammen und öffentlichen Debatten.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die amerikanische Mittelschicht heute in einem tiefgreifenden Wandel begriffen ist. Fast die Hälfte der Bevölkerung gehört zunehmend nicht mehr zu diesem wirtschaftlichen Mittelstand, und viele erleben finanzielle Belastungen, die ihren sozialen Status infrage stellen. Die Definition der Mittelschicht anhand des Einkommens zeigt klar, dass die soziale Schere sich weiter öffnet und eine Polarisierung stattfindet, die weitreichende gesellschaftliche und wirtschaftliche Folgen hat. Gleichzeitig beeinflusst die weitverbreitete Selbstwahrnehmung als Mittelschicht das Bewusstsein und die politische Ausrichtung vieler Amerikaner. Die Zukunft der Mittelschicht hängt maßgeblich davon ab, ob es gelingt, soziale Sicherheit wiederherzustellen und den wachsenden Herausforderungen zu begegnen.
Bildung, faire Löhne, bezahlbarer Wohnraum und Zugang zu Gesundheitsversorgung sind nur einige der Schlüsselthemen. Für die Gesellschaft insgesamt ist es essenziell, das Rückgrat der Mittelschicht zu stärken, denn sie bildet das Fundament für Stabilität, wirtschaftliches Wachstum und sozialen Zusammenhalt in den Vereinigten Staaten. Die Frage, ob man tatsächlich zur Mittelschicht gehört, ist daher heute relevanter denn je – nicht nur für den Einzelnen, sondern für das gesamte Land.