Hoch über dem Polarkreis, eingebettet in die unbarmherzige Landschaft des Archipels von Svalbard, liegt eine der außergewöhnlichsten Einrichtungen der Welt: das Arctic World Archive (AWA). In einer stillgelegten Kohlemine nahe Longyearbyen, der nördlichsten Stadt der Erde, bewahrt dieses außergewöhnliche Datenarchiv digitale Rückkopien bedeutender Kunstwerke, wissenschaftlicher Daten und kultureller Errungenschaften – und das mit der Absicht, sie für die kommenden Jahrhunderte zu erhalten. Dieses unterirdische Archiv ist weit mehr als nur eine Datenbank. Es ist eine Zukunftsversicherung gegen den Verlust von Wissen, der durch technologische Überalterung, Umweltkatastrophen, Kriege oder Cyberangriffe droht. Der Gründer Rune Bjerkestrand beschreibt die Mission des Archivs als einen Schutzschild für das kulturelle Gedächtnis der Menschheit.
Die Idee dahinter ist einfach und zugleich revolutionär: Informationen auf einem Medium zu speichern, das über lange Zeiträume stabil und ohne Technologierisiko erhalten bleiben kann. Das AWA nutzt dafür spezielle filmbasierte Speicherungstechnologien, entwickelt von der norwegischen Firma Piql. Anders als Festplatten oder digitale Clouds, die durch sich ständig ändernde Technologien und Zerfallsprozesse gefährdet sind, wird hier Bildinformation auf eine spezielle, lichtempfindliche Filmrolle übertragen. Jede Rolle enthält enorme Mengen an digitalen Informationen, codiert in Form winziger QR-Code-ähnlicher Muster. Diese Filme werden luftdicht verpackt und in einem kalten, dunklen und trockenen Milieu tief im Berginneren gelagert.
Die konstant unter Null Grad liegenden Temperaturen der arktischen Permafrost-Böden bieten ideale Bedingungen zur Momenterhaltung der Datenträger. Seit der Eröffnung vor etwa einem Jahrzehnt wurden mehr als 100 unterschiedliche Sammlungen aus über 30 Ländern im Arctic World Archive hinterlegt. Die Vielfalt der Objekte, die hier ihren Platz finden, ist beeindruckend. Neben exquisiten 3D-Modellen historischer Bauwerke wie dem Taj Mahal sind auch digitalisierte Manuskripte aus der Vatikanischen Bibliothek, hochauflösende Satellitenbilder der Erde, und berühmte Gemälde wie Edvard Munchs „Der Schrei“ Teil der Sammlung. Dieses Unterfangen ist nicht nur ein technisches Projekt, sondern auch ein Zeugnis der globalen Zusammenarbeit.
Institutionen, Unternehmen und Privatpersonen können ihre Kulturgüter und Daten hier deponieren – eine Art Versicherung gegen das Vergessen und den digitalen Zerfall. Die Entscheidung, den Standort Svalbard zu wählen, ist wohl durchdacht: Die abgeschiedene Lage fernab großer Bevölkerungszentren, die politische Stabilität Norwegens sowie die geophysikalischen Gegebenheiten machen das Archiv besonders sicher. Das Arctic World Archive erinnert in gewisser Weise an das benachbarte Global Seed Vault. Dieses nahegelegene Saatguttresor ist eine weltweite Sicherung für die Artenvielfalt der Pflanzen und schützt wichtige Nutzpflanzen vor möglichen globalen Katastrophen. Während das Saatguttresor die biologische Vielfalt schützt, bewahrt das Arctic World Archive das kulturelle und technologische Wissen der Menschheit.
Ein besonders bemerkenswerter Teil des Archivs ist auch die Zusammenarbeit mit Github, der weltweit größten Plattform für Quellcode. Das Github Code Vault enthält Mission-kritische digitale Bausteine wie Programmiersprachen, Open-Source-Software und KI-Tools. Diese Sammlung ist für die digitale Zukunft von großer Bedeutung, da sie die Grundlage für die Funktionsweise moderner Technologien bildet. Die Sicherung dieses Codes ist ein strategischer Schritt im Zeitalter der Digitalisierung und gewährleistet, dass selbst bei künftigen globalen Krisen Softwarekenntnisse erhalten bleiben. Die Technologie hinter dem Arctic World Archive ist bemerkenswert robust.
Die Umwandlung digitaler Daten in 8-Megapixel-Bilder, die anschließend auf lichtempfindlichen Filmbelägen gespeichert werden, ist darauf ausgelegt, Informationen unveränderbar zu konservieren. Das Verfahren verhindert jegliche nachträgliche Manipulation oder Löschung der Daten. Sollte eine künftige Generation die Dateien einlesen wollen, so liegt im Archiv auch eine optisch vergrößerbare Anleitung bei, die erklärt, wie die Daten dekodiert und genutzt werden können. Dies ist ein entscheidendes Element, um einem sogenannten digitalen „Blackout“ entgegenzuwirken, bei dem Wissen unmöglich zugänglich wird, weil die Technik verloren gegangen ist. Die Sorge, dass durch kontinuierliche technische Neuerungen und Schnelllebigkeit digitale Informationen verloren gehen könnten, ist allgegenwärtig.
Heute werden Daten in einer Vielzahl von Formaten und auf unterschiedlichen Trägern gespeichert. Aufgrund des rasanten technologischen Wandels könnten aktuelle Speichermedien in wenigen Jahrzehnten unlesbar sein. So geschehen bereits mit Disketten oder CD-ROMs. Das Arctic World Archive bietet eine zukunftsfähige Strategie, diesem Informationsverlust vorzubeugen und unser digitales Erbe zu sichern. Neben dem Archiv selbst ist auch die Datenaufbereitung ein zentrales Element.
In der südlichen Landschaft Norwegens werden die Daten für das Archiv sorgfältig aufbereitet und auf Film übertragen. Der Prozess erfordert höchste Präzision und Expertise, damit die enorme Datenmenge verlustfrei konserviert wird. Zudem stellen die Aufzeichnungen seltener Sprachen, Fotos aus bedrohten Regionen und sogar musikalische Manuskripte einen Schatz für zukünftige Historiker, Linguisten und Kulturschaffende dar. Ein Beispiel dafür ist die Dokumentation des Fotografen Christian Clauwers, der Fotografien und Videomaterial von den Marshallinseln aufzeichnete. Diese Inselgruppe ist stark vom Klimawandel und steigendem Meeresspiegel bedroht.
Solche Beiträge zeigen nicht nur die drängenden Herausforderungen unserer Zeit auf, sondern bewahren visuelle Zeugnisse bedrohter Kulturen und Landschaften für die Nachwelt. Das Arctic World Archive steht zudem exemplarisch für die zunehmende Bedeutung langlebiger Datenspeicherung in der heutigen Gesellschaft. Mit dem exponentiellen Wachstum an Datenmenge weltweit wird der verantwortungsvolle Umgang mit digitalen Informationen immer wichtiger. Das Archiv ist dabei ein Vorreiter, der neue Standards und Technologien entwickelt, um die Entwicklung der menschlichen Zivilisation nicht nur auf Servern oder in Clouds, sondern physisch gespeichert und geschützt in der rauen Natur der Arktis zu verankern. Auch wenn die Zukunft ungewiss ist, ist das Arctic World Archive eine optimistisch stimmende Antwort auf die großen Herausforderungen, die das digitale Zeitalter mit sich bringt.
Es erinnert daran, wie wichtig es ist, unseren kulturellen und wissenschaftlichen Schatz zu bewahren – für alle Menschen und für kommende Generationen. In einer Welt, die von Wandel geprägt ist, bietet das AWA dadurch eine beispiellose Verbindung zwischen Technologie, Natur und Kultur, die weit über unsere heutige Zeit hinausreicht.