Schlangenbisse sind weltweit ein unterschätztes Gesundheitsproblem, das jährlich Hunderttausende von Todesfällen verursacht und Millionen weitere Menschen mit bleibenden Behinderungen zurücklässt. Die Vielfalt der Schlangengifte und die regionale Variabilität erschweren die Entwicklung effektiver Antiseren enorm. Traditionelle Antivenome müssen auf den spezifischen Schlangentyp abgestimmt sein, was nicht selten dazu führt, dass Patienten mit dem falschen oder unpassenden Serum behandelt werden. Nun aber zeichnet sich ein Durchbruch ab, der von einem außergewöhnlichen Mann aus den USA inspiriert wurde: Tim Friede, ein ehemaliger Lkw-Mechaniker, der sich über 18 Jahre hinweg mehr als 200 Mal von giftigen Schlangen beißen ließ und über 700 Injektionen von Schlangengiften selbst verabreichte. Sein Ziel war es, sich selbst vor dem tödlichen Gift zu schützen – doch seine ungewöhnliche Mission führte zu einer weltweiten medizinischen Sensation.
Tim Friede begann seine Reise, um eine persönliche Immunität gegen Schlangengifte aufzubauen. Sein Traum war es, sich bei der Schlangenhaltung besser schützen zu können. Was als individuelle Selbstschutzmaßnahme begann, entwickelte sich im Lauf der Zeit zu einem lebenslangem Engagement, das inzwischen die gesamte antivenöse Forschung neu belebt hat. Sein Blut enthält außergewöhnliche Antikörper, die Forscher aus den Vereinigten Staaten als „unvergleichbar“ bezeichnen. Diese Antikörper sind in der Lage, eine breite Palette neurotoxischer Wirkstoffe aus dem Gift vieler tödlicher Schlangenarten zu neutralisieren – ein Durchbruch, der bislang als unerreichbar galt.
Traditionell werden Antivenome produziert, indem man kleinen Mengen Schlangengift Tiere wie Pferden oder Schafen injiziert. Deren Immunsystem bildet dann spezifische Antikörper, die als Gegengift gewonnen werden. Allerdings ist die Wirksamkeit solcher Antivenome stark auf die regionalen Unterschiede von Schlangengiften beschränkt – sogar Schlangen derselben Art können in verschiedenen geografischen Regionen toxisch unterschiedliche Gifte produzieren. Das macht es schwierig, universelle Gegenmittel zu entwickeln, die in allen betroffenen Ländern wirken. Das internationale Forscherteam, das die Arbeit von Friede nutzt, sucht längst nach sogenannten breitneutralisierenden Antikörpern.
Anders als herkömmliche Antikörper, die sich auf die eigentümlichen, artspezifischen Bestandteile eines Giftes konzentrieren, zielen diese auf allgemeinere toxinbasierte Strukturen ab, die viele Schlangenarten gemeinsam haben. Dadurch könnten sie theoretisch vor den tödlichen Wirkmechanismen einer Vielzahl verschiedener wie auch verschiedener Giftklassen schützen. Der Biotech-Unternehmer Dr. Jacob Glanville war derjenige, der die außergewöhnlichen Antikörper in Friede entdeckte. „Ich dachte sofort: Wenn jemand breitneutralisierende Antikörper entwickelt hat, dann er“, berichtet Glanville.
Nach einem ersten, ungewöhnlichen Telefonat erhielt er die Erlaubnis, Friede’s Blutproben analysieren zu dürfen. Die daraus entstehenden Forschungsarbeiten konzentrieren sich auf die Familie der Elapiden, zu denen einige der giftigsten Schlangen der Welt zählen. Dazu gehören Mambas, Kobras, Taipane, Krait-Schlangen und Korallenschlangen. Diese Schlangenarten bringen besonders neurotoxische Gifte mit, die das Nervensystem lahmlegen und zu Atemlähmungen führen können, was unbehandelt fatale Folgen hat. Die Wissenschaftler isolierten spezifische Antikörper aus Friede's Blut, die zwei wichtige neurotoxische Toxinklassen blockieren können.
Zusammen mit einem Medikament, das eine dritte Toxinart angreift, entwickelte das Team einen sogenannten Cocktail aus breitneutralisierenden Antikörpern. In Tierversuchen überlebten Mäuse nach Verabreichung dieses Cocktails tödliche Giftmengen von 13 der 19 getesteten Schlangenarten vollständig. Für die übrigen sechs Spezies zeigte sich eine teilweise Schutzwirkung. "Diese Schutzbreite ist bisher ohne Beispiel", erklärt Dr. Glanville.
Der Schritt hin zu einem universellen Antiserum für Elapiden könnte damit zum Greifen nah sein. Neben den Elapiden existiert die Schlangengruppe der Vipern, deren Gifte hauptsächlich blutgerinnungshemmende und gewebeschädigende Eigenschaften besitzen. Ein umfassendes Antivenom müsste daher nicht nur neurotoxische, sondern auch hämatotoxische Gifte neutralisieren können. Laut Prof. Peter Kwong von der Columbia University gibt es rund ein Dutzend Haupttoxinklassen in Schlangengiften.
Die Hoffnung besteht, dass Wissenschaftler innerhalb der nächsten Dekade für jede dieser Toxinarten effektive Antikörper entwickeln können. Die Forscher sondieren Friede’s Blut weiterhin intensiv, da seine außergewöhnliche Immunantwort auf Schlangengifte offenbar eine unschätzbare Ressource darstellt. Tim Friede selbst sieht in seinem Beitrag zur Forschung eine besondere Verantwortung. „Ich mache das für die Menschen, die Tausende von Kilometern entfernt an Schlangenbissen sterben“, erklärt er. Mit seiner Selbstversuchsmethode und der anschließenden Forschung hat er nicht nur sein Ziel einer persönlichen Immunität erreicht, sondern eine viel größere Mission ins Leben gerufen: eine weltweit verfügbare, breit wirksame Therapie gegen Schlangengifte zu entwickeln, die Leben retten und das Leiden vieler Patienten mindern kann.
Ein wesentlicher Vorteil des neuen Ansatzes besteht darin, dass er auf einer Kombination breitneutralisierender Antikörper beruht, die sich auf konservierte Teile der Giftmoleküle konzentrieren. Dadurch könnte in Zukunft ein Antivenom hergestellt werden, das nicht mehr auf eine einzelne Schlangenart beschränkt ist. Das wiederum erleichtert die Versorgung in ländlichen Regionen und Entwicklungsländern, die von giftigen Schlangenarten verschiedener Art bedroht sind. Prof. Nick Casewell vom Liverpool School of Tropical Medicine betont, dass die aktuelle Studie einen wegweisenden Beitrag zur Entwicklung besserer und einheitlicher Behandlungen darstellt.
Gleichzeitig mahnt er jedoch zur Vorsicht: Es bedarf noch umfangreicher klinischer Studien und Sicherheitsprüfungen, bevor ein solches Antivenom regulär eingesetzt werden kann. Die Herausforderung bleibt, aus den vielversprechenden Labordaten eine praktikable und zugelassene Therapie zu formen. Trotz aller Herausforderungen ist der Fortschritt bemerkenswert und lässt die Hoffnung auf eine Revolution in der Behandlung von Schlangenbissen wachsen. Weltweit sind vor allem in ländlichen Gebieten vieler Tropenländer Schlangenbisse eine häufige Todesursache. Die gegenwärtige Behandlung ist oft unzureichend, Kinder und Armutsbevölkerung sind am stärksten gefährdet.
Ein effektives, breit wirksames Antivenom könnte diese Krise entscheidend entschärfen. Darüber hinaus hat die von Friede initiierte Zusammenarbeit Wissenschaftler auf der ganzen Welt inspiriert. Das Beispiel zeigt, wie individuelle Neugier, Risikobereitschaft und Ausdauer in Kombination mit moderner Biotechnologie Medizin neu gestalten können. Solche Ansätze könnten auch für andere toxische Erkrankungen und komplexe Gesundheitsfragen neue Wege eröffnen. Nicht zuletzt stellt Friede’s Geschichte ein eindrucksvolles Zeugnis für den menschlichen Willen und die Hingabe dar, uns alle vor einer oft unterschätzten Gefahr zu schützen.
Sein persönliches Risiko, seine Schmerzen und seine Erlebnisse im Kampf gegen das Schlangengift haben einer ganzen Generation von Wissenschaftlern eine neue Richtung gegeben. Wir stehen möglicherweise vor einem medizinischen Meilenstein, der die Behandlung von Schlangenbissen weltweit transformieren wird.