Lepra, medizinisch bekannt als Hansen-Krankheit, galt lange Zeit als eine Krankheit, die erst mit den europäischen Entdeckern und Kolonisatoren in die Amerikas gebracht wurde. Dieses Narrativ wurde jahrzehntelang unangefochten angenommen, da es in historischen und medizinischen Quellen keine eindeutigen Hinweise auf die Existenz der Krankheit vor der Ankunft der Europäer gab. Doch neue wissenschaftliche Erkenntnisse aus der Paläogenomik und molekularen Epidemiologie stellen dieses Bild grundlegend in Frage und zeigen, dass Lepra in verschiedenen Formen schon lange in den präkolumbianischen Gesellschaften der Amerikas präsent war. Diese Erkenntnisse haben weitreichende Bedeutung für das Verständnis von Krankheitssgeschichte, Migrationen und der Co-Evolution von Mensch und Krankheitserregern sowie für die heutige Bekämpfung und Wahrnehmung von Lepra. Die Krankheit Lepra wird hauptsächlich durch Mycobacterium leprae verursacht, doch es gibt mittlerweile einen zweiten Erreger, Mycobacterium lepromatosis, der vor allem in der Neuen Welt gefunden wird.
Diese Entdeckung ist relativ jung und hat zu einem Umdenken in Bezug auf die Ursprünge und Verbreitung von Lepra geführt. Während M. leprae global verbreitet ist und seine Ausbreitung bis zu den Völkerwanderungen und Handelsspuren zurückverfolgt werden kann, offenbarte die Analyse von M. lepromatosis, dass dieser Erreger schon vor der europäischen Kolonisation in Amerika existierte. Forschungsgruppen konnten anhand von DNA-Analysen sowohl moderner Proben als auch prähistorischer menschlicher Überreste Genomdaten von M.
lepromatosis aus der Zeit vor der europäischen Ankunft gewinnen. Diese Daten belegen, dass es mindestens mehrere tausend Jahre alte Vertreter dieser Bakterienart in Nord- und Südamerika gab. Die phylogenetische Analyse zeigt eine klare Trennung zwischen verschiedenen Stämmen und eine lange eigenständige Evolutionsgeschichte, was auf eine weitverbreitete Präsenz während des Spät-Holozäns hindeutet. Das bedeutet, dass die Krankheit in unterschiedlichen menschlichen Populationen bereits vor den ankommenden Kolonisatoren zirkulierte und somit nicht ausschließlich als eine importierte Krankheit gesehen werden kann. Der Nachweis von M.
lepromatosis in antiken Proben wurde durch den Einsatz modernster Techniken in der Paläogenetik ermöglicht. Durch systematisches Screening hunderter archäologischer und moderner Proben konnten Forscher die genetische Vielfalt und Verbreitung der Erregerarten näher charakterisieren. Besonders bemerkenswert ist der Fund von M. lepromatosis in Überresten, die einer indigenen Bevölkerung Nordamerikas zugeordnet werden, sowie in Südamerika. Die enge Zusammenarbeit mit indigenen Gemeinschaften und Institutionen war dabei ein wichtiger Schritt, um auch ethischen und kulturellen Anforderungen gerecht zu werden.
Neben dem historischen Interesse ist die Erkenntnis über die präkolumbianische Präsenz von Lepra in Amerika auch für das Verständnis der Krankheit heute von großer Bedeutung. M. lepromatosis wird zunehmend als ein eigenständiger Erreger von Lepra wahrgenommen, der mitunter andere klinische Merkmale und Verläufe zeigt als das bekanntere M. leprae. Studien aus verschiedenen Regionen Amerikas, insbesondere in Mexiko und Lateinamerika, weisen auf eine weiterhin bestehende Verbreitung des Erregers hin und haben die Notwendigkeit unterstrichen, beide Erreger bei Diagnostik und Behandlung zu berücksichtigen.
Die Kombination von archäologischen Befunden, genetischen Studien und epidemiologischen Daten zeigt ein komplexes Bild der Geschichte von Lepra in den Amerikas. Die Krankheit ist weder eine alleinige Konsequenz europäischer Kolonisation noch eine homogen zu betrachtende Infektion. Sie hat vielfältige Ursprünge und unterschiedliche Pfade genommen, die eng mit den Bewegungen der menschlichen Populationen verbunden sind. Dieser Sachverhalt ist wichtig, um stereotypes Denken zu hinterfragen und die aktuelle Bekämpfung der Krankheit effektiver zu gestalten. Während Lepra heutzutage in vielen Teilen der Welt als gut behandelbar gilt und dank globaler Gesundheitsbemühungen zurückgedrängt wurde, bleibt sie in einigen Regionen der Amerikas weiterhin präsent.
Die Erforschung von M. lepromatosis hat gezeigt, dass die Krankheit sich in lokalen Reservoiren halten kann, womit auch Herausforderungen in der vollständigen Ausrottung bestehen. Es ist zudem von Interesse, dass Lepra auch als Zoonose auftreten kann, wie Studien an Gürteltiere in den USA zeigen, was die Komplexität des Krankheitsmanagements erhöht. Das historische Verständnis von Lepra und ihrer Verbreitung ist nicht nur akademisch relevant, sondern hat auch soziale und kulturelle Dimensionen. Lepra war und ist mit Stigmatisierung verbunden, und das Bewusstsein um ihre lange Geschichte in den Amerikas kann helfen, Vorurteile abzubauen und die Krankheit im Rahmen der öffentlichen Gesundheitsversorgung ganzheitlicher zu betrachten.
Die Zusammenarbeit mit indigenen Gemeinschaften bei der Erforschung von alten Überresten und heute lebenden Patienten zeugt von einem respektvollen Ansatz, der die kulturelle Sensibilität in den Vordergrund stellt. Zusammenfassend zeigt die neue Forschungslage, dass Lepra in Amerika eine viel ältere Geschichte hat als bisher angenommen. M. lepromatosis war vor der europäischen Kolonisation bereits in der Neuen Welt verbreitet und stellt einen bedeutenden Faktor im Verständnis der Krankheit dar. Die fortdauernde Präsenz dieser Erreger vor Ort erfordert angepasste diagnostische und therapeutische Strategien sowie eine differenzierte Wahrnehmung der geografischen und historischen Dimensionen von Lepra.