In den letzten Jahrzehnten hat sich China von einem eher zurückhaltenden Akteur auf der weltweiten Technologiebühne zu einem dominierenden Player entwickelt, der nun aktiv die globalen Technologiestandards mitgestaltet. Dabei zeigt sich, dass Chinas sogenannte „späte Ankunft“ im Bereich der globalen Standardisierung kein Nachteil, sondern vielmehr ein strategisches „Kommen des Erwachsenwerdens“ ist. Diese Entwicklung ist tief verwurzelt in einer langfristigen und gut durchdachten Strategie, die auf Geduld und einem strukturellen Wandel basiert. China hat in den letzten Jahren beeindruckende Grundlage geschaffen, um sich als Technologiemacht zu etablieren. Mit einer doppelt so hohen Produktionskapazität wie die USA, einer höheren Anzahl aktiver Technologiepatente und einer außerordentlich starken Präsenz in Schlüsselindustrien wie der Drohnenproduktion oder dem Schiffsbau, demonstriert das Land seine Fähigkeit, nicht nur Innovationen zu schaffen, sondern diese auch global durchzusetzen.
Diese Transformation ist das Ergebnis einer jahrzehntelangen strategischen Planung und Investition in Wissenschaft, Technologie und Industrie. Ein entscheidender Faktor für den Aufstieg Chinas ist die enge Verzahnung von militärischer und wirtschaftlicher Politik. Unter Konzepten wie Zìzhǔ Chuàngxīn, zu Deutsch „indigene Innovation“, entwickelte China ein eigenständiges Innovationssystem. Gleichzeitig wurde mit dem Ansatz „Zǒu Chūqù“ – „nach außen gehen“ – eine gezielte Öffnung und Internationalisierung der chinesischen Industrie verfolgt. So gelang es Unternehmen wie Huawei bereits 2008, einen großen Teil ihrer Umsätze außerhalb Chinas zu generieren.
Dies demonstriert nicht nur das Vertrauen der internationalen Märkte, sondern auch die Fähigkeit Chinas, globale Marktmechanismen zu nutzen und zu beeinflussen. Parallel zu dieser Internationalisierung wurde auch die Forschung und Entwicklung im Inland grundlegend reformiert. Die chinesische Regierung fördert aktiv die Zusammenarbeit zwischen Unternehmen, Universitäten und staatlichen Institutionen, um innovative Lösungen im nationalen Interesse voranzutreiben. Ein besonderer Schwerpunkt liegt dabei auf der Einbindung von akademischen Akteuren, etwa der Tsinghua-Universität, sowie großer Telekommunikationsunternehmen wie China Telecom und China Mobile in internationale Standardisierungs- und Technologieforen. Ein immenser Vorteil für China ist die gezielte Nutzung seines Territoriums als Plattform zur internationalen Vernetzung.
Die Austragung großer Technologie-Meetings, wie das Internationale Internet Engineering Task Force (IETF) Treffen 2010 in Peking, hat zu einem deutlichen Anstieg chinesischer technischer Publikationen geführt. Im Gegensatz zu anderen „Spätentwicklern“, die ihre IT-Sektoren vorrangig für den Dienstleistungsbereich ausrichten, hat China stark in produktorientierte Technologien investiert, um globale Standards nicht nur zu übernehmen, sondern selbst mitzugestalten. Darüber hinaus profitierte China von der gezielten Förderung der Rückkehr und Einbindung von Diaspora-Fachkräften, die internationale Expertise in die heimische Forschung und Industrie trugen. Diese Kombination aus einer innenpolitisch stark gesteuerten Innovationsoffensive und einer aggressiven Außenpolitik der Technikstandardisierung hat es China ermöglicht, in Schlüsselbereichen wie der Umstellung auf IPv6 oder der mehrsprachigen Internationalisierung von Domainnamen entscheidende globale Standards zu prägen. Die Bedeutung von offenen digitalen Standards als globale öffentliche Güter steht im Zentrum von Chinas Ambitionen, eine Weltmacht in der Digitalisierung zu werden.
Der Rückzug oder die Unentschlossenheit bisheriger Führungsmächte wie den USA bei der Weiterführung solcher globalen Güter schafft einen Raum für andere Akteure, diesen Einfluss auszubauen. Die Migration der Governance wichtiger technischer Standards wie dem RISC-V Mikroprozessor nach neutralen Orten wie der Schweiz zeigt deutlich, wie instabil die bisherige Führungsrolle im Westen geworden ist. Chinas strategischer Einsatz von Geduld, Kooperation und einer langen Perspektive hebt das Land deutlich von vielen anderen Ländern ab, die eher kurzfristig auf bestehende Standards reagieren. Während Länder wie Indien ihren IT-Sektor überwiegend auf Dienstleistungen ausrichten, fokussiert China seine Energie auf den Aufbau eigener Produktsysteme, mit dem Ziel, umfassende technische Normen auch außerhalb der Landesgrenzen zu setzen. Gleichzeitig sucht China international den Dialog, etwa durch technische Harmonisierung mit Europa im Rahmen von Initiativen wie SESEC.
Die Konsequenz dieser Entwicklung ist eine bipolare Weltordnung im digitalen Bereich, in der China und die USA die beiden größten Pole darstellen. Dennoch sind die strategischen Grundlagen, die China gelegt hat, robuster und zukunftsorientierter als oftmals angenommen. Statt eines abrupten Aufstiegs handelt es sich bei Chinas Erfolg um eine wohlorganisierte und systematische „Volljährigkeit“ in der Welt der Technologie und Standards. Zukunftsorientiert wird China weiterhin in Forschung, Entwicklung und Internationalisierung investieren, um seine Stellung nicht nur zu festigen, sondern auszubauen. Der Wettbewerb um technologische Hegemonie wird maßgeblich von der Fähigkeit abhängen, offene und inklusive digitale Standards bereitzustellen, die als globale öffentliche Güter fungieren.