Anne Frank gilt weltweit als Symbol für das Leid der jüdischen Bevölkerung im Holocaust. Ihr Tagebuch hat Generationen berührt und ein Bild von Mut, Hoffnung und menschlicher Güte inmitten eines der dunkelsten Kapitel der Geschichte gezeichnet. Die Geschichte, die viele kennen, umfasst jedoch meist nur den Moment ihrer Verhaftung und das anschließende Schicksal der Familie Frank. Doch bis heute ist nicht abschließend geklärt, wer sie verriet und der Gestapo den entscheidenden Hinweis auf ihr Versteck in der Prinsengracht 263 in Amsterdam lieferte. Der langjährige Mythos, dass in den Niederlanden die Mehrheit der Bevölkerung die jüdischen Mitbürger schützte und unterstützte, wird durch neu aufgetauchte Erkenntnisse nun infrage gestellt und eröffnet eine Diskussion über die tief verwurzelte Komplexität der Kollaboration, der Passivität und des Überlebenskampfes in besetzten Gebieten.
Im Jahr 2025 wurde ein bislang größtenteils unveröffentlichter niederländischer Nachkriegsarchivbestand digital zugänglich gemacht. Das Archiv mit rund 32 Millionen Dokumentenseiten umfasst Akten von über 425.000 Personen, die im Rahmen der sogenannten Spezialgerichtsbarkeit wegen Kollaborationsvorwürfen während der NS-Besatzungszeit untersucht wurden. Diese historische Fundgrube liefert nicht nur individuelle Geschichten, sondern auch neue Anhaltspunkte darüber, wie massiv die Mitarbeit und das Wegschauen innerhalb der niederländischen Bevölkerung bei der Deportation von Juden waren. Die Verzögerung und Beschränkungen bei der Freigabe der Dokumente lassen sich nur zum Teil mit Datenschutz- und Persönlichkeitsrechten erklären; vielmehr spiegeln sie auch den unbehaglichen Umgang der niederländischen Gesellschaft mit ihrer eigenen Vergangenheit wider.
Bis heute wird der Niederlande häufig attestiert, dass sie eine Nation des Widerstandes gewesen seien, die ihre jüdischen Einwohner beschützte. Die historische Realität zeigt allerdings, dass etwa 75 Prozent der jüdischen Bevölkerung des Landes durch die NS-Vernichtungspolitik getötet wurden – die höchste Rate in Westeuropa. Die neuen Archivdaten legen nahe, dass ein großer Teil der niederländischen Bevölkerung entweder aktiv kollaborierte oder aus Gleichgültigkeit bis hin zu offenem Antisemitismus jüdische Nachbarn exponiert und verraten hat. Die Tatsache, dass Juden im Jahr 1941 auf Anweisung der Nazis vor allem pflichtbewusst registriert wurden, ermöglichte es den Besatzern, eine detaillierte Datenbasis für Massenverhaftungen und Deportationen zu erstellen. Die Rolle der niederländischen Polizei, die oft aus ehemaligen Soldaten bestand, erwies sich dabei als entscheidend bei der Umsetzung dieser NS-Politik.
Auch Unternehmen wie die Amsterdamer Verkehrsbetriebe waren involviert: In einer jüngst erschienenen Dokumentation wurde enthüllt, dass sie Dekrete der Nazis ausführten und sogar Buchhaltung über die Transporte von deportierten Juden führten, um sich von den Besatzern erstatten zu lassen. Vor allem aber werfen die neuen Archivdaten die Frage auch über den Verräter von Anne Frank neu auf. Nach wie vor fehlt eine eindeutige Antwort darauf, wer den entscheidenden Tipp gab, der zur Entdeckung des Hinterhauses führte. Während schon zahlreiche Verdachtsmomente und Hypothesen untersucht wurden, könnte die Möglichkeit, im digitalen Archiv zu recherchieren, nach Personen und Adressen, neue wichtige Beweise bringen. Forscher hoffen, dass gerade die große Menge an neu durchsuchbaren Akten einen Durchbruch ermöglichen könnte – dabei geht es nicht nur um einzelne Fälle, sondern auch um das breite Verständnis von Verrat, Kollaboration und Überleben in der damaligen Gesellschaft.
Die Sensibilität für diese Themen ist in den Niederlanden sehr hoch. Die gesellschaftliche Spaltung über den Umgang mit der NS-Vergangenheit hat sich über Jahrzehnte erhalten. Fälle von Kollaborateuren wurden lange tabuisiert oder ignoriert. Erst Mitte des 20. Jahrhunderts führte die Aufdeckung von Verstrickungen einzelner Persönlichkeiten zu gesellschaftlicher Ächtung.
Doch die neue Archivfreigabe öffnet nun einen weiten Schleier über hunderte von Fällen, die bisher unberührt waren. Viele Niederländer zögern, sich der unangenehmen Wahrheit zu stellen. Die Unterscheidung zwischen „guten“ und „schlechten“ Niederländern, zwischen Widerstandskämpfern und Verrätern erscheint heute zu grob. Die Realität des Zweiten Weltkriegs in den Niederlanden ist von Grautönen geprägt. Zahlreiche Menschen fügten sich widerwillig in die besetzende Machtordnung ein, manch einer suchte die eigene Vorteilnahme, andere informierten und verrieten um des Überlebens willen, zahlreiche wiederum schwiegen aus Angst, Verblendung oder Gleichgültigkeit.
Verschiedene Untersuchungen zeigen, dass zum Beispiel Nachbarn von Versteckten oder Deportierten durch Stillhalten, Nutzung von deren verlassenen Häusern oder gar durch Hehlerei von deren Hab und Gut profitierten. Solche Formen der indirekten Kollaboration waren gesellschaftlich weit verbreitet, blieben aber lange unbeachtet. Die digitale Veröffentlichung der Archive macht die Komplexität dieser Verstrickungen nun sichtbarer. Inzwischen wird auch darüber debattiert, wie die niederländische Gesellschaft heute mit dieser Geschichte umgehen soll, insbesondere angesichts erneut aufflammender antisemitischer Tendenzen. Die Ereignisse im November 2024, bei denen israelische Touristen in Amsterdam von arabischen Fahrern und anderen angegriffen wurden, führten zu großer Empörung und erinnerten viele an die dauerschwelenden Gefahren von Judenfeindlichkeit – verbunden mit einer unbequemen Erkenntnis, dass antisemitische Einstellungen in der Gesellschaft nie wirklich verschwunden sind.
Die Aussage des niederländischen Königs Willem-Alexander, dass die Niederlande die jüdische Gemeinschaft während des Holocaust und auch in jüngster Zeit im Stich gelassen habe, verdeutlicht den Druck auf die Gesellschaft, sich eingehender mit ihrer Geschichte auseinanderzusetzen. Die Debatte gewinnt auch an Bedeutung, weil sie über die Vergangenheit hinaus noch immer aktuelle Fragen aufwirft. Wer ist verantwortlich für den Verrat? Wer trägt Verantwortung für das Weiterschweigen? Und wie können Erinnerung, Aufarbeitung und Versöhnung langfristig gestärkt werden? Die digitale Archivierung ist dabei mehr als ein rein historisches Projekt. Sie zwingt die Gesellschaft, Mut zu fassen, Gewohnheiten des Vergessens zu durchbrechen und eine ehrliche Selbstreflexion zuzulassen. Anne Frank steht dabei für mehr als das junge Mädchen hinter der Glasscheibe; sie symbolisiert die vielen unsichtbaren Opfer und die komplizierte Gemeinschaft, in der sie lebten und starben.
Der Verrat an ihrer Familie ist nicht nur ein Kriminalfall von damals, sondern Teil einer großen gesellschaftlichen Tragödie, in die weder Täter noch Opfer einfach hineingepresst werden können. Mit den neuen digitalen Quellen stehen die Chancen gut, dass Antworten gefunden werden, die bisher verloren schienen. Wie diese Antworten aussehen werden, bleibt offen – doch der Impuls zu Offenheit und Wahrheit ist deutlich spürbar. In der Auseinandersetzung mit dem Verrat an Anne Frank geht es am Ende auch um die Frage, wie eine Gesellschaft mit ihrem kollektiven Gewissen umgeht und ob sie bereit ist, unangenehme Wahrheiten anzuerkennen, um sich selbst besser zu verstehen und aus ihren Fehlern für die Zukunft zu lernen.