Die digitale Transformation der öffentlichen Verwaltung in Europa schreitet unaufhaltsam voran. Fast jede Gemeinde, jede Stadt und immer mehr öffentliche Einrichtungen bieten heute Online-Dienste an und kommunizieren über digitale Kanäle. Dabei zeigt sich jedoch ein alarmierender Trend: Ein Großteil dieser kritischen Infrastruktur basiert auf Technologien und Diensten großer US-amerikanischer Konzerne, insbesondere Microsoft und Google. Diese Abhängigkeit birgt in vielerlei Hinsicht Risiken, die weit über technische Probleme hinausgehen. Sie betrifft Datenschutz, politische und wirtschaftliche Souveränität sowie die Sicherheit von wichtigen staatlichen Funktionen.
Eine aktuelle Untersuchung europäischer Kommunalverwaltungen hat verdeutlicht, wie weit verbreitet die Nutzung von Diensten wie Microsoft 365 oder Google Workspace ist. Anhand der Analyse von Mail-Servern (MX-DNS-Einträgen) wurde deutlich, dass beispielsweise in Ländern wie Belgien über 70 Prozent der öffentlichen Dienstleistungen auf Microsoft setzen. Ähnlich hohe Quoten finden sich in Finnland mit 77 Prozent, Norwegen mit 64 Prozent und den Niederlanden mit etwa 60 Prozent. Im Gegensatz dazu meiden Länder wie Deutschland oder Ungarn weitgehend Microsoft-Dienste und bevorzugen andere Lösungen, darunter auch lokale oder Open Source-Angebote. Die Gründe für diese unterschiedlichen Prioritäten liegen teils in politischer Kultur, teils in technischer Expertise und Bewusstsein.
Deutschland etwa genießt einen Ruf als Land mit einer starken Hacker- und IT-Sicherheitskultur, was sich in einem bewussteren Umgang mit IT-Strategien niederschlägt. Auch die strikten Datenschutzregelungen und die starke Betonung der Cybersecurity spielen hier eine Rolle. Dennoch ist es bemerkenswert, dass gerade Länder mit guten Voraussetzungen noch weit entfernt sind von einer echten digitalen Souveränität. Ein zentrales Problem ist neben der technischen Abhängigkeit die rechtliche Lage. US-amerikanische Gesetze wie der sogenannte CLOUD Act geben amerikanischen Behörden weitreichende Zugriffsrechte auf Daten, die bei amerikanischen Anbietern gespeichert sind – selbst wenn diese Daten auf europäischen Servern liegen.
Dieses Spannungsfeld zwischen europäischen Datenschutzbestimmungen und US-amerikanischen Rechtsnormen erschwert es europäischen Institutionen, ihre Datenhoheit zu wahren. Hinzu kommt die Gefahr wirtschaftlicher Erpressbarkeit. Sobald eine wichtige öffentliche Dienstleistung auf die Dienste eines einzelnen Anbieters angewiesen ist, entsteht eine sogenannte Vendor-Lock-in-Situation. Dadurch wird ein Wechsel zu alternativen Lösungen kostspielig und technisch komplex, was den Anbieter in eine starke Position bringt. Der Fall Finnland illustriert dieses Dilemma eindrucksvoll: Trotz öffentlich bekundeter Priorität für europäische Lösungen im Jahr 2023 steigen dort die Preise für Microsoft-Dienste 2025 um rund 25 Prozent.
Die mangelnde Wechselmöglichkeit verstärkt den Handlungsspielraum des Anbieters erheblich. Solche Abhängigkeiten sind nicht nur ein rein wirtschaftliches Problem. Sie wirken sich auch direkt auf die Versorgungssicherheit und Funktionsfähigkeit essenzieller Dienste aus. Dass in Belgien beispielsweise 100 Prozent der Polizeidienststellen Microsoft-Maildienste verwenden und die Hälfte der Feuerwehr ebenfalls auf amerikanische Anbieter angewiesen ist, zeigt die Brisanz der Lage. Ein Ausfall oder eine Verweigerung der Dienstbereitstellung kann hier unter Umständen Menschenleben gefährden.
Der politische Kontext verschärft die Situation weiter. Die jüngsten Spannungen zwischen internationalen Institutionen wie dem Internationalen Strafgerichtshof und den USA zeigen, wie geopolitische Faktoren Einfluss auf digitale Infrastrukturen nehmen können. Sanktionen und politische Druckmittel könnten im schlimmsten Fall dazu führen, dass kritische Dienste gezielt lahmgelegt oder eingeschränkt werden. In Skandinavien und den Benelux-Staaten wächst das Bewusstsein für diese Risiken. Norwegen und Schweden äußern bereits offen Bedenken hinsichtlich der Abhängigkeit von US-Cloud-Diensten.
Experten warnen davor, dass ein Scheitern des EU-US-Datenschutzabkommens dazu führen könnte, dass die Nutzung amerikanischer Cloud-Anbieter in diesen Ländern illegal wird. Diese Staaten stehen an einem Scheideweg: Entweder weitere Abhängigkeit von instabilen politischen Partnern oder die mutige Entwicklung eigener digitaler Infrastrukturen. Parallel mehren sich Stimmen, die Open Source als Ausweg und strategische Alternative sehen. Offene Software, die unter frei zugänglichen Lizenzen entwickelt wird, ist transparent, kann von jedem überprüft werden und mindert die Abhängigkeit von einzelnen großen Konzernen. Zudem ermöglicht der offene Quellcode die Anpassung an lokale Bedürfnisse und fördert die Zusammenarbeit zwischen Kommunen sowie öffentlichen Einrichtungen.
Europa besitzt ein großes Reservoir an IT-Talenten und eine ausgeprägte Open-Source-Community, die als Grundlage für den Aufbau eigener Lösungen dienen kann. Die Herausforderung besteht darin, politische und wirtschaftliche Rahmenbedingungen zu schaffen, die Innovation, Investitionen und nachhaltige Entwicklung europäischer digitaler Infrastrukturen befördern. Dazu gehört auch die Förderung kleiner und mittelständischer Unternehmen, die nicht nur technisches Know-how liefern, sondern auch die digitale Souveränität Europas stärken. Ein weiterer Aspekt betrifft den infrastrukturellen Aufbau: Ein stärker dezentralisiertes Internet in Europa, verteilt auf viele kleinere Rechenzentren, könnte die Resilienz der digitalen Infrastruktur deutlich erhöhen. technischen und politischen Risiken durch Zentralisierung könnte so begegnet werden.
Angesichts der geopolitischen Lage Europas, etwa der Nähe zu Russland, ist dies ein wichtiger Punkt. Anders als das amerikanische Modell, das auf große hyperskalierbare Rechenzentren setzt, sollte Europa auf Diversität und Dezentralisierung setzen. Gleichzeitig ist der Ausbau der digitalen Infrastruktur nur ein Teil der Lösung. Es braucht klare politische Strategien, die digitale Souveränität explizit als Ziel definieren und dafür entsprechende Investitionen sowie gesetzliche Rahmenbedingungen schaffen. Bisher standen oft Kostenoptimierung, Interoperabilität und Transparenz im Vordergrund, während Aspekte wie Cybersecurity und Nachhaltigkeit zu kurz kamen.
Eine Wendung in der Prioritätensetzung ist dringend notwendig. Die Debatte um europäische digitale Abhängigkeiten ist auch eine gesellschaftliche. Bürgerinnen und Bürger sollten informiert und sensibilisiert werden, um den Druck auf politische Entscheidungsträger zu erhöhen. Gleichzeitig sind diese aufgerufen, mutige Entscheidungen zu treffen und nicht aus Bequemlichkeit weiterhin auf etablierte US-Technologie zu setzen, deren Kontrolle sie nicht besitzen. Letztlich stellt sich die Frage, welches Europa wir in einer zunehmend digitalisierten Welt sein wollen.
Wollen wir weiterhin Kleinstteile im Ökosystem großer amerikanischer Konzerne bleiben oder eigenständige, souveräne digitale Strukturen schaffen, die unseren Werten entsprechen und Sicherheit gewährleisten? Die Antwort auf diese Frage entscheidet darüber, wie resilient, sicher und unabhängig Europas digitale Gesellschaft in den kommenden Jahrzehnten sein wird. Die Zeit zu handeln ist jetzt, bevor aus der bestehenden Abhängigkeit eine unüberwindbare digitale Gefangenschaft wird. Der Aufbau und die Förderung europäischer, offener und sicherer IT-Infrastrukturen sollten im Zentrum der digitalen Agenda stehen, um künftigen Generationen eine stabile und sichere Zukunft zu sichern.