Südkorea befindet sich seit Jahren in einem politischen Aufruhr, der nicht nur die Exekutive und Legislative, sondern zunehmend auch die Judikative betrifft. Die Rolle der südkoreanischen Justiz in politischen Prozessen und in der Vergabe von Machtpositionen setzt demokratische Prozesse unter Druck und lässt Kritiker fragen, ob die Gerichte das schwächste Glied in Südkoreas Demokratie sind. Die enge Verflechtung zwischen Gerichtsbarkeit und Politik, die eigentümliche Einflussnahme öffentlicher Meinung sowie die politische Selektion von Richtern und Staatsanwälten prägen die Landschaft zu einem Zeitpunkt, an dem die demokratischen Institutionen ohnehin Herausforderungen gegenüberstehen. Im Mittelpunkt der Debatten steht aktuell der Fall von Lee Jae-myung, dem Kandidaten der Demokratischen Partei, der trotz eines Verurteilungsurteils wegen Wahlbetrugs seinen Präsidentschaftswahlkampf fortsetzt. Ursprünglich mit einer einjährigen Haftstrafe belegt, die seine Wahlkampfteilnahme verbietet, wurde das Urteil zunächst in Berufung aufgehoben, ehe der Oberste Gerichtshof die Entscheidung revidierte und ein neues Verfahren anordnete, das eine Verurteilung nahezu sicherer macht.
Diese komplexen juristischen Prozesse sind Ausdruck einer tiefen Unsicherheit innerhalb des politischen Systems, in dem Entscheidungen der Gerichte unmittelbare Auswirkungen auf die demokratische Willensbildung haben. Lee setzt dennoch auf seinen Wahlerfolg unter der Annahme, dass ein abschließendes Urteil erst nach der Wahl gefällt wird. Ein möglicher Wahlsieg führt zwangsläufig zu neuen juristischen Kräftenproben, die die politische Landschaft weiter polarisieren dürften. Die Geschichte Südkoreas zeigt, dass politische Skandale und juristische Verfahren Hand in Hand gehen. In den letzten zwei Jahrzehnten sah sich praktisch jeder Präsident, vom konservativen Park Geun-hye bis zu liberalen Präsidenten wie Moon Jae-in oder Yoon Suk Yeol, mit strafrechtlichen Ermittlungen, Anklagen oder gar Gefängnisstrafen konfrontiert.
Diese Tatsache verdeutlicht ein politisches Klima, in dem Gerichtsverfahren zum alltäglichen Instrument im Kampf um politische Macht geworden sind. Ein wesentliches Element dieses Phänomens ist die öffentliche Meinung. In Südkorea existiert das sogenannte „national sentiment law“, ein Begriff, der keine formelle gesetzliche Verankerung besitzt, sondern die enorme Macht beschreibt, die öffentliche Meinung auf politische und gerichtliche Entscheidungen hat. Dies zeigt sich vor allem in Fragen der nationalen Sicherheit, Geschichte und politischen Skandalen. Während in den meisten Demokratien die Unabhängigkeit der Justiz vor politischem Druck durch die Bevölkerung geachtet wird, ist in Südkorea die Rede davon, dass Gerichte ihre Entscheidungen offenbar auch im Licht aktueller Umfragewerte und gesellschaftlicher Stimmungen treffen – eine Entwicklung, die internationale Beobachter besorgt.
Diese Einbindung von Populärmeinungen hat dazu geführt, dass Gerichtsverfahren wie jene gegen ehemalige Präsidenten als quasi „politische Theaterstücke“ wahrgenommen werden, bei denen das öffentliche Ansehen eine größere Rolle spielt als die rechtlichen Aspekte. Dies hat die Glaubwürdigkeit der Justiz untergraben und den Eindruck verstärkt, dass parteipolitische Interessen Einfluss auf richterliche Urteile nehmen. Die Ernennung und Zusammensetzung der Richter und Staatsanwälte ist ein weiterer kritischer Punkt. In Südkorea ernennt der Präsident sowohl den Chef der obersten Gerichtsbarkeit als auch die übrigen Richter auf nationaler Ebene sowie den Generalstaatsanwalt und die Staatsanwaltschaft. Dieses zentrale Machtinstrument ermöglicht es der Exekutive, das Justizsystem innerhalb weniger Jahre ideologisch zu prägen, wie das Beispiel von Ex-Präsident Moon Jae-in zeigt, der 13 der 14 obersten Richter ernannte.
Besonders bedeutsam ist hierbei die Rolle bestimmter progressiver Gruppen von Juristen, die politische und ideologische Agenden mitprägen. Organisationen wie „Minbyun“ (Lawyers for a Democratic Society) und „People's Solidarity for Participatory Democracy“ spielten eine zentrale Rolle bei der Ausbildung von Juristen, die nicht allein der Rechtsprechung verpflichtet sind, sondern auch aktiv an gesellschaftspolitischen Bewegungen teilnehmen. Ursprünglich auf Menschenrechte und demokratischen Wandel ausgerichtet, wandelten sich diese Organisationen über Jahrzehnte zunehmend zu ideologisch geprägten Gruppen, die eng mit bestimmten Parteien und politischen Strömungen verbunden sind. Diese Entwicklung hat zur Verstärkung eines Phänomens geführt, bei dem die professionelle Laufbahn als Staatsanwalt oder Richter oft zugleich ein Karrieresprungbrett in die Politik ist. So wurden nicht nur Präsidenten wie Moon oder Yoon durch ihre juristische Tätigkeit bekannt, sondern viele hochrangige Justizbeamte verfolgen gezielt politische Ambitionen.
Dieses Ineinandergreifen von Juristerei und politischem Machtinteresse stellt die Unabhängigkeit der Justiz infrage und trägt zur Politisierung der Rechtsprechung bei. Zudem wird die Justiz in Südkorea mit dem Ruf konfrontiert, „gerichtliche Machtkämpfe“ als Mittel politischer Auseinandersetzungen zuzulassen. Die Instrumentalisierung von Strafverfahren gegen politische Gegner ist in den letzten Jahren zur Norm geworden, was das demokratische Fundament durch eine Schwächung der Trennung von Staat und Justiz gefährdet. In einem funktionierenden demokratischen System sollte die Justiz ein unparteiischer Hüter der Verfassung sein, frei von politischem Kalkül und öffentlichem Druck. Die Realität in Südkorea zeigt jedoch, dass die Balance zwischen Unabhängigkeit und politischen Einflussnahmen empfindlich gestört ist.
Die Gefühle der Bevölkerung sind gespalten. Einerseits schätzen viele Südkoreaner die Tatsache, dass politische Korruption und Machtmissbrauch strafrechtlich verfolgt werden. Andererseits wächst die Besorgnis, dass die Justiz als Instrument politischer Rache missbraucht wird, anstatt echte Gerechtigkeit zu etablieren. In einer Demokratie, die sich nach Jahrzehnten autoritärer Herrschaft entwickelt hat, sind solche Spannungen oft unvermeidlich, doch sie müssen anerkannt und adressiert werden, um die demokratische Kultur zu festigen. Die Zukunft der südkoreanischen Demokratie hängt daher wesentlich von der Reform und Stärkung der Justiz ab.
Hierzu zählen Maßnahmen zur Sicherung der richterlichen Unabhängigkeit, einer transparenten und objektiven Ernennungspraxis sowie der Reduzierung des Einflusses externer politischer Kräfte und öffentlicher Meinungen auf gerichtliche Entscheidungen. Ebenso ist die Etablierung klarer institutioneller Grenzen zwischen politischer und juristischer Macht nötig, um den Respekt vor Rechtsstaatlichkeit und fairen Verfahren zu garantieren. Abschließend zeigt die Situation in Südkorea exemplarisch, wie die Justiz in einer jungen Demokratie sowohl als Garant von Recht und Ordnung als auch als Bühne für politische Konflikte fungieren kann. Die Herausforderungen, vor denen das südkoreanische Justizsystem steht, sind komplex und tief verwurzelt in der politischen Geschichte, aktuellen Machtverhältnissen und gesellschaftlichen Dynamiken. Ob die Justiz als „schwächstes Glied“ zu bezeichnen ist, hängt vom Blickwinkel ab.
Sicherlich sind die derzeitigen Defizite und politischen Verstrickungen Anlass zur Sorge. Gleichzeitig birgt die Aufmerksamkeit für diese Problemstellungen auch die Chance, durch Reformen und gesellschaftlichen Dialog die demokratische Ordnung zu festigen und die Justiz zu einem stärkeren Pfeiler der südkoreanischen Demokratie zu machen.