In der heutigen Zeit, in der Herz-Kreislauf-Erkrankungen zu den häufigsten Todesursachen weltweit zählen, gewinnt das Bewusstsein für die tatsächliche Gesundheit unseres Herzens immer mehr an Bedeutung. Neue Forschungsergebnisse aus internationalen Studien legen nahe, dass das Herz vieler Menschen weitaus „älter“ funktionieren kann als das biologische Alter suggeriert. Dabei bedeutet „Herzalter“ nicht einfach das Alter auf dem Ausweis, sondern die funktionale Leistungsfähigkeit und Struktur des Herzens im Vergleich zu gesunden Standards. Diese Erkenntnisse könnten künftig einen Paradigmenwechsel im Umgang mit Herzgesundheit und Prävention bedeuten. Eine bahnbrechende Studie unter der Leitung von Dr.
Pankaj Garg von der Universität East Anglia hat gezeigt, dass Personen mit kardiovaskulären Risikofaktoren, wie Übergewicht, Diabetes oder Bluthochdruck, Herzen besitzen, die im Durchschnitt um fünf Jahre älter arbeiten als ihr tatsächliches Alter – bei Menschen mit schwerer Adipositas kann dieser Unterschied sogar bis zu 45 Jahre betragen. Diese Diskrepanz zwischen biologischem Alter und funktionalem Herzalter wirft ein erschreckendes Licht auf die Bedeutung präventiver Maßnahmen und personalisierter Medizin. Die Studie basiert auf Herz-MRT-Untersuchungen von über 500 Teilnehmern aus verschiedenen Ländern, wobei gesunde Probanden mit solchen mit kardiovaskulären Erkrankungen verglichen wurden. Ein besonderer Fokus lag auf der linken Herzvorhofkammer, einem Bereich des Herzens, der Sauerstoff-reiches Blut aus der Lunge empfängt. Mit zunehmendem Alter vergrößert sich diese Kammer natürlicherweise und verliert an Effizienz.
Allerdings zeigte sich, dass diese altersbedingten Veränderungen bei Personen mit Herzproblemen deutlich verstärkt sind, was wiederum eine Alterung des Herzens simuliert, die weit über das Lebensalter hinausgeht. Die Auswirkungen von Übergewicht auf das Herzalter sind besonders dramatisch. Während Menschen mit leichter Adipositas eine Herzalterung von etwa vier Jahren über ihrem tatsächlichen Alter aufweisen, steigt diese bei mäßiger Adipositas auf fünf Jahre. Schwer adipöse Menschen (BMI über 40) hingegen weisen ein funktionales Herzalter auf, das um 45 Jahre älter ist. Das bedeutet, dass ihr Herz nicht mehr gesund und leistungsfähig arbeitet, sondern an Verschleiß und Funktionsverlust leidet, der meist erst Jahre später symptomatisch wird.
Neben Adipositas steht auch Diabetes im Fokus der Forschung. Besonders auffällig ist, dass bei Diabetikern im mittleren Alter – speziell in den Vierzigern – das Herzalter bis zu 56 Jahre über dem biologischen Alter liegen kann. Diese alarmierende Zahl unterstreicht die intensive Belastung, der das Herz durch unkontrollierte Blutzuckerwerte und andere Stoffwechselstörungen ausgesetzt ist. Bluthochdruck wirkt ähnlich wie ein Beschleuniger für die Herzalterung. Er führt ununterbrochen zu einer höheren Beanspruchung des Herzens und einer vorzeitigen Abnutzung, die bis zum Alter von etwa 70 Jahren besteht.
Auch Patienten mit Vorhofflimmern zeigen eine stark erhöhte Herzalterung in allen Altersgruppen. Das Konzept des „Herzalters“ ist dabei nicht bloß eine abstrakte Messgröße, sondern ein praxisnaher Ansatz, körperliche Herzrisiken verständlich zu vermitteln. Statt komplexer Analysen und schwer nachvollziehbarer Statistiken können Ärzte ihren Patienten eine klare Botschaft geben: „Ihr Herz funktioniert wie das eines Menschen, der viele Jahre älter ist als Sie.“ Dieser einfache und eindringliche Vergleich kann einen Wendepunkt im Gesundheitsbewusstsein bilden und motiviert Betroffene, frühzeitig Veränderungen im Lebensstil vorzunehmen. Die Entdeckung, dass das Herzalter durch moderne bildgebende Verfahren wie die kardiale Magnetresonanztomographie (kardiales MRT) präzise bestimmt werden kann, ist ein wichtiger Fortschritt.
Die fortgeschrittene Bildanalyse mittels künstlicher Intelligenz ermöglicht es, verschiedene Herzparameter – wie das Volumen und die Pumpfunktion aller vier Herzkammern – objektiv zu messen und dadurch eine genaue Einschätzung des Herzalters zu liefern. Die linke Herzvorhofkammer hat sich dabei besonders als verlässlicher Marker herausgestellt, da sich ihre Funktionsfähigkeit mit steigendem Herzalter am deutlichsten verändert. Darüber hinaus offenbart die Studie wertvolle Erkenntnisse über normale altersbedingte Veränderungen im Herzen. So nimmt die Pumpleistung der linken Herzkammer bei gesunden Menschen im Alter sogar zu – eine Anpassung, die die Verminderung der Elastizität im Herzen ausgleicht. Doch bei Herzkranken ist diese positive Anpassung gestört, was zu einer Verschlechterung der Herzfunktion führt.
Diese Einsichten fordern sogar eine Überprüfung und Aktualisierung bestehender medizinischer Normwerte, welche derzeit noch nicht das Alter als Faktor ausreichend berücksichtigen. Die Konsequenzen für die medizinische Praxis sind vielfältig. Die Möglichkeit, eine vergleichbare Zahl wie das Herzalter zu nennen, kann Patienten dabei helfen, ihre eigene Gesundheit besser zu verstehen und notwendige Maßnahmen zu ergreifen, bevor sich Symptome oder schwerwiegende Ereignisse wie Herzinfarkte oder Schlaganfälle manifestieren. Für Ärzte ergibt sich daraus ein effektives Werkzeug, um Patientenrisiken besser zu erkennen und eine gezielte Therapie einzuleiten. Herzalter zu kennen bedeutet auch Prävention ganz neu zu denken.
Für Menschen ohne akute Beschwerden kann es sich als „Weckruf“ erweisen, um einen gesünderen Lebensstil zu beginnen – sei es durch eine bessere Ernährung, regelmäßige Bewegung oder die konsequente Einnahme von verschriebenen Medikamenten. Lebensstilfaktoren spielen eine entscheidende Rolle bei der Verlangsamung der Herzalterung und können wesentlich dazu beitragen, das Risiko schwerwiegender Herzerkrankungen zu reduzieren. Doch es gibt auch wichtige Grenzen zu beachten: Die Studie richtete sich auf eine Momentaufnahme und beobachtete verschiedene Teilnehmergruppen zu einem bestimmten Zeitpunkt. Sie lieferte daher keine Informationen darüber, wie sich das Herzalter im Zeitverlauf bei einzelnen Personen verändert. Zudem wirkten sich Faktoren wie Dauer der Erkrankung, Ernährung, sozioökonomische Umstände und Bewegung auf die Herzgesundheit aus, wurden jedoch nicht berücksichtigt.
Trotz dieser Einschränkungen liefern die Ergebnisse eine solide Grundlage für weitere Forschung und klinische Anwendungen. Die Finanzierung der Studie kam unter anderem vom Wellcome Trust und wurde vollkommen unabhängig von pharmazeutischen Interessen durchgeführt, was die Glaubwürdigkeit der Ergebnisse unterstreicht. Dr. Garg, der leitende Forscher, ist selbst im Medizinbereich aktiv und berät Unternehmen, die medizinische Bildgebung vorantreiben, was den Praxistransfer der Ergebnisse begünstigt. Insgesamt zeigt die Forschung deutlich, dass das Herz durch innere und äußere Risikofaktoren vorzeitig altert und seine Leistung deutlich früher infrage gestellt werden kann, als das biologische Alter es vermuten lässt.
Besonders die enormen Auswirkungen von Übergewicht und Diabetes machen deutlich, wie wichtig eine ganzheitliche Betrachtung der Gesundheit ist. Die Integration des Herzalters in die tägliche medizinische Praxis könnte dazu beitragen, Herz-Kreislauf-Erkrankungen künftig noch wirksamer vorzubeugen. Für alle Menschen gilt daher: Nicht nur das Lebensalter zählt, sondern vor allem die Gesundheit des Herzens. Der Gedanke, dass das Herz um Jahrzehnte älter schlagen kann, sollte Ansporn sein, das eigene Herz aktiver zu schützen – durch bewusste Ernährung, regelmäßigen Sport, das Vermeiden von Rauchen und durch eine solide medizinische Betreuung. Denn das Herz ist kein unverwüstliches Organ, sondern ein empfindsames System, dessen Alterung durch unseren Lebensstil maßgeblich beeinflusst wird.
Diese neuen Erkenntnisse und die Möglichkeit, das individuelle Herzalter zu bestimmen, könnten den Beginn einer neuen Ära im Herzgesundheitsmanagement markieren. Ziel ist es nicht nur, Krankheiten früh zu erkennen und zu behandeln, sondern auch das Bewusstsein in der Bevölkerung zu schärfen und Menschen zu fördern, die Gesundheit ihres Herzens selbstbewusst in die Hand zu nehmen. Damit können Herzinfarkte, Schlaganfälle und andere schwerwiegende Komplikationen vermieden werden und die Lebensqualität im Alter verbessert werden. Herzgesundheit ist also mehr als nur das Fehlen von Symptomen. Sie ist ein dynamischer Zustand, der sich über Jahre und Jahrzehnte hinweg entwickelt und durch zahlreiche Faktoren beeinflusst wird.
Die Wissenschaft rund um das Herzalter liefert uns wertvolle Werkzeuge, um diese Dynamik besser zu verstehen und Menschen auf ihrem Weg zu einem gesünderen Herz zu begleiten – für ein längeres und vitaleres Leben.