Der Markt für Augmented-Reality-Brillen (AR-Brillen) wandelt sich weltweit rasant. Während in westlichen Märkten, insbesondere in den USA, große Tech-Konzerne wie Meta eine starke Position einnehmen und den AR-Markt weitgehend monopolisieren, zeichnet sich in China ein gegensätzliches Bild ab. Dort herrscht ein regelrechter „Hundert-Linsen-Krieg“ – ein intensiver Wettbewerb zwischen zahlreichen Unternehmen, die um die Gunst der Verbraucher und um technologische Durchbrüche kämpfen. Jedoch sind es in China vor allem kleine und mittlere Unternehmen sowie agile Startups, die eine führende Rolle spielen, während Tech-Giganten eher zurückhaltend agieren. Dieses Szenario prägt das Wachstum und die Innovationsdynamik in einem Markt, der in den kommenden Jahren weltweit an Bedeutung gewinnen wird.
Der Begriff „Hundert-Linsen-Krieg“ (百镜大战) symbolisiert die Vielzahl an Herstellern und Produkten, die um die Vorherrschaft im chinesischen AR-Brillenmarkt konkurrieren. Diese Vielzahl bringt eine enorme Vielfalt an technischen Innovationen und Preisoptionen mit sich, von sehr erschwinglichen Modellen bis hin zu High-End-Geräten mit anspruchsvollen Funktionen. Das chinesische AR-Ökosystem profitiert dabei von einer starken heimischen Fertigung, innovativen Display-Technologien und einer fortschrittlichen Wellenleiterentwicklung, die das Herzstück moderner AR-Linsen bilden. Während im Westen nach Google Glass und dem Meta-Dominanzanspruch der Wettbewerb teilweise eingeschlafen ist, hat China in den letzten Jahren enormes Potenzial für eine lebendige und vielfältige Produktlandschaft entfaltet. Diese Entwicklung kann als Antwort auf den übermäßigen Marktkonzentrationsprozess in westlichen Ländern gesehen werden, der nach Expertenmeinung durchaus zur Verlangsamung der Innovation geführt hat.
Der AR-Markt in China umfasst eine breite Palette von Funktionen, wobei Unterhaltung und Medienkonsum weiterhin eine große Rolle spielen. Gleichzeitig werden Anwendungen in Bildung, medizinischer Versorgung und Logistik zunehmend in den Fokus gerückt. Von zentraler Bedeutung sind fünf herausragende Unternehmen, die als „Fünf Kleine Drachen“ (AR眼镜五小龙) bezeichnet werden. XREAL, RayNeo, Rokid, INMO und Meizu formen als Kerngruppe eine Art Innovationsmotor, der trotz unterschiedlicher Strategien und Ausrichtungen koexistiert und den Markt nach vorne treibt. Diese Firmen repräsentieren dabei nicht nur unterschiedliche technologische Ansätze, sondern auch diverse Zielgruppen und Preisklassen.
XREAL aus Hangzhou lebt den Anspruch, Hardware möglichst selbstständig zu entwickeln. Das Unternehmen überzeugt durch die Entwicklung eigener Prozessoren – sogenannte X1-Chips –, die extrem niedrige Latenzzeiten erlauben und somit zu einem flüssigeren und nahtloseren Nutzererlebnis führen. Dies hebt XREAL von Konkurrenten ab, die oft auf leistungsstarke, aber weniger maßgeschneiderte Snapdragon-Prozessoren von Qualcomm setzen. Die Philosophie hinter XREAL betont eine auf den Nutzer zentrierte Produktgestaltung, die technische Neuerungen nicht um ihrer selbst willen einsetzt, sondern konsequent auf die Verbesserung der Alltagstauglichkeit ausgerichtet ist. Auch wenn XREAL derzeit keine aktiv beworbenen AI-Funktionen integriert, sind zukünftige Updates und eine mögliche Integration von Sprachmodellen bereits in Aussicht gestellt.
RayNeo, eine Tochtergesellschaft des staatlich beeinflussten Elektronikriesen TCL, spielt sowohl im Inland als auch international eine Rolle. Mit Marketingaktivitäten und Vertrieb über Plattformen wie Amazon hat sich RayNeo erfolgreich auch in europäischen Märkten positioniert. Das Unternehmen zeichnet sich durch eine pragmatische Produktstrategie aus, die auf eine ausgewogene Balance zwischen moderner Technologie und Kostenoptimierung bedacht ist. Zum Beispiel wählt RayNeo in der Herstellung seiner Wellenleiter Glas statt teureren Materialien, um Produkte erschwinglich zu halten und Massenfertigung zu ermöglichen. Die Kooperation mit Alibaba Cloud zur Entwicklung von multimodalen KI-Modellen ermöglicht schnellen und effizienten Zugriff auf AI-Funktionen, was speziell für Anwendungen wie Übersetzungen eine wichtige Rolle spielt.
Der Preis der RayNeo Air 3s liegt mit unter 250 US-Dollar deutlich unter vergleichbaren westlichen Produkten, was dem Unternehmen einen Wettbewerbsvorteil verschafft. Rokid, mit Wurzeln in Hangzhou und gegründet von einem ehemaligen Alibaba-Mitarbeiter, setzt stark auf den B2B-Markt und hat enge Verflechtungen mit staatlichen Institutionen. Ein auffälliges Beispiel ist die Zusammenarbeit mit der chinesischen Raumfahrtbehörde, die spezielle AR-Brillen für den Einsatz auf der chinesischen Raumstation entwickelt hat. Trotz dieser beeindruckenden Projekte im professionellen Bereich wird Rokid im Consumer-Markt oft als weniger attraktiv bewertet. Die Gestalt der Rokid Max-Brillen wird häufig als unmodisch wahrgenommen, und die mobilen Nutzungsmöglichkeiten sind begrenzt, da sie auf kabelgebundene Verbindungen angewiesen sind.
Dennoch bleibt Rokid ein wichtiger Player hinsichtlich der möglichen Anwendung von AR-Technologie in Industrie, Kultur und Behörden. INMO, das sich stark auf erschwingliche Modelle mit integrierten AI-Features konzentriert, verfolgt eine klare Strategie, AR-Brillen als persönliche Assistenten und Social-Interface zu etablieren. Durch Kooperationen mit großen chinesischen Tech-Firmen wie Baidu und NetEase entsteht ein Ökosystem, das gerade für junge und technikaffine Nutzer vielversprechend erscheint. Die INMO GO-Brille beschreibt dabei ein Modell, das mit ChatGPT-artiger KI ausgestattet und auf Sprachenvielfalt ausgelegt ist, um komplexe Aufgaben wie Übersetzungen und Meeting-Notizen zu bewältigen. Die Andockung an China Mobile mit dessen Jiutian LLM zeigt zudem die Ambitionen, den Markt noch tiefer mit künstlicher Intelligenz zu durchdringen.
Meizu, traditionell bekannt als Smartphone- und mittlerweile auch Automobilhersteller, hat im Bereich AR-Brillen vor allem dank der Unterstützung durch den mächtigen Konzern Geely eine prominente Stellung. Die von Meizu entwickelten AR-Brillen sind kompatibel mit Geelys Fahrzeugbetriebssystem FlyMe Auto, was schon jetzt Anwendungsszenarien im Automobilsektor eröffnet. Die jüngste öffentliche Präsentation von Meizu-AR-Brillen durch Chinas Präsident Xi Jinping auf seinem Besuch in Shanghai unterstreicht das strategische Gewicht, das der chinesische Staat dem AR-Sektor beimisst. China profitiert bei all dem von stark vertikal integrierten Lieferketten, von der Mikrodisplay-Herstellung über Wellenleiter bis zu eigenen Betriebssystemen und KI-Algorithmen. Insbesondere die Verfügbarkeit von Micro-LED- und Micro-OLED-Displays, die auf Silizium-Wafern basieren, wie sie auch beim Apple Vision Pro zum Einsatz kommen, wurde seit 2023 durch umfangreiche Investitionen und Know-how-Transfer deutlich günstiger.
Die Zielsetzung ist eine vollständige Hardware-Unabhängigkeit, um nicht von internationalen Lieferketten oder politischen Spannungen abhängig zu sein. Trotz aller Enthusiasmus und Investitionen gibt es weiterhin Herausforderungen. Derzeit dominieren der hohe Stromverbrauch, die begrenzte Rechenleistung auf kleinem Raum und die Notwendigkeit, KI-Berechnungen auf externe Geräte auszulagern, die Produktentwicklung und das Nutzererlebnis erheblich. Zudem bleibt die Kritik an Design und Komfort bestehen, was für eine breite Akzeptanz in der Bevölkerung ausschlaggebend ist. Es ist jedoch davon auszugehen, dass sich hier durch technische Innovationen und die Intensivanalyse der Nutzerbedürfnisse bald Fortschritte einstellen werden.
Bemerkenswert sind die Preisunterschiede zu westlichen Produkten. Wo ein Meta Orion Pro mit rund 10.000 US-Dollar zu Buche schlägt, bewegen sich die chinesischen Spitzenmodelle meist in einer Preisspanne zwischen 275 und 600 US-Dollar. Diese Erschwinglichkeit eröffnet neue Käuferschichten und bietet Raum für experimentelle Anwendungen und schnellere Marktetablierung. Ein spannender Aspekt des chinesischen AR-Marktes ist die kontinuierliche Erprobung verschiedener Hardwarekonzepte.
Die Hersteller testen diverse Kombinationen von verkabelten und kabellosen Geräten, unterschiedliche Displayausstattungen und den Einsatz kombinierter AR- und VR-Funktionen. Dies sorgt nicht nur für technische Vielfalt, sondern auch für unterschiedliche Nutzererfahrungen, die in ihrer Gesamtwirkung noch nicht abschließend beurteilt werden können. Langfristig könnte die AR-Technologie nicht nur die Unterhaltungsbranche revolutionieren, sondern vor allem auch in mehrsprachigen Gesellschaften und komplexen Arbeitsumgebungen neue Maßstäbe setzen. So haben Echtzeitübersetzungen und sprachunterstützte Kommunikation das Potenzial, die Interaktion in linguistisch heterogenen Regionen wie Indien oder innerhalb der wachsenden Gaming- und Bildungsindustrie entscheidend zu verbessern. Unterm Strich steht China mit seinem „Hundert-Linsen-Krieg“ exemplarisch für den Versuch, durch Wettbewerb, Vielfalt und zielgerichtete Forschungsförderung einen komplett eigenen Weg im Bereich der erweiterten Realität zu beschreiten.