Stickstoff ist eines der häufigsten Elemente in der Erdatmosphäre und tritt auf der Erde hauptsächlich in seiner stabilsten Form als molekularer Stickstoff N2 auf. Diese Form ist bekannt für ihre chemische Inertheit, die sie für viele Anwendungen äußerst nützlich, aber gleichzeitig auch schwierig zu aktivieren macht. Obwohl Stickstoff in vielen Verbindungen vorkommt, etwa in Ammoniak oder Nitrat, ist das Vorhandensein neutraler molekularer Stickstoff-Allotrope jenseits des N2-Moleküls ein wissenschaftliches Rätsel geblieben. Die extreme Instabilität solcher Polymoleküle machte ihre Synthese über Jahrzehnte nahezu unmöglich – bis jetzt. Mit der kürzlich erfolgreichen Herstellung des neutralen Stickstoffallotropen Hexanitrogen C2h-N6 wurde ein neues Kapitel in der Chemie der Polymoleküle aufgeschlagen, das weitreichende Auswirkungen auf die Energiespeicherung und darüber hinaus hat.
Hexanitrogen C2h-N6 ist ein Molekül, das aus sechs Stickstoffatomen besteht, die in einer bestimmten trans-Konfiguration miteinander verbunden sind. Diese Struktur unterscheidet sich grundlegend von der bekannten Stickstoffmolekülform N2 sowie von zuvor nur theoretisch oder im Ionenstatus bekannten Allotropen wie dem Pentanitrogen-Anion. Die Synthese von neutralem N6 stellt somit die erste erfolgreiche Realisierung einer molekularen Stickstoffform jenseits des üblichen Dioxygenmoleküls dar und bringt damit langfristige Forschungsfragen zur Natur und Bindung von Stickstoffmolekülen auf eine neue Ebene. Die Herstellung von Hexanitrogen erfolgte über eine Kombination aus der Gasphasenreaktion von Chlor- oder Bromgas mit Silberazid (AgN3) unter reduziertem Druck bei Raumtemperatur. Die entstehenden Reaktionsprodukte wurden anschließend bei sehr niedrigen Temperaturen von etwa 10 Kelvin in Argon-Matrizen eingefangen, um ihre Stabilität zu überprüfen und genauer zu analysieren.
Zusätzlich gelang es, reines N6 in Form eines dünnen Films bei der Temperatur von flüssigem Stickstoff (77 Kelvin) zu kondensieren, was einen weiteren Hinweis auf seine überraschende Stabilität liefert. Diese Synthese ist bemerkenswert, da sie trotz der theoretisch angenommenen Instabilität und kurzen Lebensdauer neutraler stickstoffhaltiger Polymoleküle gelingt. Die experimentelle Bestätigung beruhte maßgeblich auf Infrarot- und UV-Vis-Spektroskopie sowie 15N-Isotopenmarkierung, unterstützt durch umfangreiche ab initio-Rechnungen. So konnten charakteristische Banden identifiziert und der molekulare Aufbau des N6 bestätigt werden. Besonders die Unterscheidung von verschiedenen Isotopomeren anhand ihrer spezifischen Schwingungsmoden lieferte eindeutige Nachweise für die Anwesenheit des molekularen Hexanitrogens.
Zudem zeigen die Rechnungen, dass N6 eine kinetische Barriere von etwa 14,8 kcal/mol gegen den Zerfall zu drei N2-Molekülen besitzt, was für eine bemerkenswerte temporäre Stabilität spricht. Diese Barriere ermöglicht es N6, ausreichend lange zu existieren, um experimentell charakterisiert zu werden und in einer isolierten Matrix erhalten zu bleiben. Von besonderem Interesse ist die energetische Bewertung von Hexanitrogen. Die Zersetzung von N6 in gewöhnliches N2 setzt enorme Energiemengen frei – mehrere hundert Kilokalorien pro Mol, was es zu einem äußerst potenten Energiespeichermaterial macht. Im Vergleich zu klassisch verwendeten Energieträgern wie TNT oder hochenergetischen Stoffen wie HMX übertrifft N6 diese bezüglich Energieinhalt und theoretischer Detonationsparameter erheblich.
Damit könnte N6 in Zukunft als Grundlage für „saubere“ explosive Stoffe dienen, welche nur Stickstoffgas als Zersetzungsprodukt hinterlassen und keine schädlichen Rückstände erzeugen. Dies öffnet neue Perspektiven für umweltfreundliche Energiematerialien. Die elektronische Struktur und Bindungsverhältnisse von Hexanitrogen offenbaren eine interessante Mischung aus Doppel- und Einfachbindungen zwischen den Stickstoffatomen, was durch natürliche Bindungsordnungsanalysen bestätigt wird. Die Ladungsverteilung zeigt, dass die äußeren Stickstoffatome weitgehend neutral sind, während das Innere der Kette eine leichte Polarität durch positive und negative Ladungen aufweist. Diese Struktur sorgt für Stabilität und besondere Reaktivität, welche auch die beobachteten Spektren erklärt.
Eine zusätzliche Herausforderung bei der Erforschung von höheren Stickstoffallotropen ist die mögliche Rolle von Quantentunneln bei ihrer Zerfallsreaktion. Einige theoretische Konzepte gehen davon aus, dass selbst hohe Zersetzungsbarrieren durch Quanteneffekte unterlaufen werden können, was zu äußerst kurzen Lebenszeiten führt. Für Hexanitrogen zeigen jedoch Berechnungen, dass Quantentunnelung kaum eine relevante Rolle spielt, wodurch die Existenz in experimentell nachweisbaren Zeiträumen erklärbar wird. Dies unterscheidet N6 von anderen hypothetischen Stickstoff-Polymolekülen, deren Lebenszeiten durch Tunnelprozesse drastisch reduziert würden. Die praktische Synthese von Hexanitrogen erfolgt mit dem reaktiven Silberazid, einem bekannten Vorläufer für azid- und polynitrohaltige Verbindungen, und den Halogenmolekülen Chlor oder Brom.
Die dabei ablaufenden Reaktionen sind unter kontrollierten Bedingungen möglich, erfordern jedoch aufgrund der Natur der Ausgangsstoffe äußerste Vorsicht. Silberazid sowie Halogenazide sind hoch explosive Stoffe, deren Handhabung ausschließlich unter strengster Sicherheitsbeaufsichtigung erfolgen darf. Dennoch gelingt so die effiziente Erzeugung des reaktiven N6-Moleküls, welches dann im Matrixisolationsapparat stabilisiert und untersucht werden kann. Die langfristige Bedeutung dieser Entdeckung liegt nicht nur im Nachweis eines neutralen Stickstoffallotropen über N2 hinaus, sondern auch in der praktischen Anwendbarkeit in Zukunftstechnologien. Die hohe Energiemenge, die Hexanitrogen bei seiner Zersetzung freisetzt, veranlasst Chemiker und Materialwissenschaftler, N6 als möglichen Kandidaten für neue, leistungsfähige Energiespeicher- oder Raketentreibstoffe anzusehen.
Die Tatsache, dass als einziges Zersetzungsprodukt das umweltfreundliche N2 entsteht, spricht für eine nachhaltige Nutzung solcher Verbindungen. Darüber hinaus trägt dieses Ergebnis zum besseren Verständnis der chemischen Bindung in reinen Stickstoffsystemen bei. Während Kohlenstoff vielfältige allotrope Formen mit hoher Stabilität aufweist, war die Synthese neutraler Stickstoff-Polymere eine große Herausforderung. Das erfolgreiche Experiment beweist, dass trotz erwarteter Instabilität durch clevere Syntheseansätze und tiefgehende theoretische Planung neutraler Stickstoffkettenaufbau möglich ist. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Entdeckung und Herstellung von Hexanitrogen C2h-N6 einen entscheidenden Fortschritt in der Chemie polymolekularer Stickstoffverbindungen darstellt.
Sie erweitert das Wissen über molekulare Allotropie jenseits traditioneller Formen und hebt die Möglichkeiten für hochenergetische, dabei umweltfreundliche Materialien hervor. Mit weiterer Forschung könnten sich ausgehend von N6 neue Wege für nachhaltige Energieerzeugung, innovative Sprengstoffe und gezielte chemische Anwendungen eröffnen. Die Kombination von experimenteller Synthese, präziser analytischer Charakterisierung und moderner theoretischer Chemie stellt hierbei ein glänzendes Beispiel für interdisziplinäre Wissenschaft dar, die fundamentale Grenzen verschiebt und praktische Anwendungen voranbringt.