Im Zentrum eines der größten Wirtschaftsskandale Großbritanniens steht der Fall des ehemaligen FTSE-100-Unternehmens NMC Health, einem Krankenhausbetreiber, der in den Vereinigten Arabischen Emiraten und mehreren europäischen Ländern tätig war. Die Vorwürfe gegen EY, eine der weltweit führenden Wirtschaftsprüfungsgesellschaften, sind nicht nur schwerwiegend, sondern sie werfen zudem ein Schlaglicht auf fundamentale Schwächen im Bereich der Unternehmensprüfungen, die letztlich zu einem milliardenschweren Betrug führten. Der Fall von NMC Health begann mit der Gründung des Unternehmens in den 1970er Jahren durch den indischen Unternehmer BR Shetty und erlebte seinen Höhepunkt mit der Börsennotierung an der Londoner Börse im Jahr 2012. In den darauffolgenden Jahren entwickelte sich NMC Health zu einem internationalen Konzern mit Besitz an rund 45 Krankenhäusern und 15 Apotheken in den Vereinigten Arabischen Emiraten, Großbritannien, Schweden und Lettland. Trotz dieser beeindruckenden Expansion kam das Unternehmen im Jahr 2020 aufgrund eines massiven finanziellen Betrugs zum Erliegen und meldete Insolvenz an.
Die Insolvenz selbst war das Resultat eines mutmaßlichen Milliardenbetrugs, durch den die drei Hauptaktionäre des Unternehmens – neben BR Shetty waren dies Khalifa bin Butti und Saeed bin Butti – angeblich erhebliche Geldsummen illegal abgegriffen hatten. Die Vorwürfe gegen die Wirtschaftsprüfungsgesellschaft EY sind, dass sie trotz ihrer Funktion als unabhängige Prüfer jahrelang die betrügerischen Machenschaften nicht aufdecken konnten und dabei schwere Fehler begangen haben sollen. Kritiker werfen EY vor, die Bücher von NMC Health während der Prüfzeiten von 2012 bis 2018 nicht einmal richtig geöffnet zu haben. Diese Einschätzung stammt aus Gerichtsdokumenten, die nahelegen, dass die Prüfer zu keinem Zeitpunkt umfassenden Zugriff auf detaillierte Transaktionsdaten und Buchhaltungsunterlagen hatten. Stattdessen sei die Prüfung auf extrem eingeschränkten und oberflächlichen Daten erfolgt, die von Mitarbeitern des Unternehmens in äußerst begrenztem Umfang bereitgestellt wurden – oft so marginal, dass die Prüfer lediglich über die Schulter eines Mitarbeiters auf eine einzige Bildschirmseite schauten.
Diese symptomatischen Versäumnisse führten letztlich dazu, dass EY keinen Hinweis auf die erheblichen Manipulationen in NMC Healths Finanzbuchhaltung erhielt. Die buchhalterischen Einträge waren laut Experten mit offensichtlich gefälschten Zahlen durchsetzt, darunter auch versteckte Schulden, die verschleiert wurden, um die wahre Finanzlage zu kaschieren. Hätte EY ordnungsgemäß auf die vollständigen Buchhaltungsunterlagen und Transaktionsdetails Zugriff gehabt, so argumentieren die Anwälte der Insolvenzverwaltung, wäre der Betrug frühzeitig aufgedeckt und der Schaden womöglich begrenzt worden. Die Vorwürfe gegen EY sind nicht nur von juristischer Natur, sondern zeigen auch ein besorgniserregendes Bild eines Systems, in dem Wirtschaftsprüfer möglicherweise zu eng mit ihren Klienten verbunden sind oder schlichtweg nicht über die notwendigen Ressourcen und Skepsis verfügen, um Unregelmäßigkeiten bei Großunternehmen effektiv aufzudecken. Der US-amerikanische Leerverkäufer Muddy Waters hatte bereits im Dezember 2019 in einem Bericht erstmals schwere Vorwürfe gegen NMC Health erhoben.
Nach Veröffentlichung dieses Berichts fiel der Aktienkurs des Unternehmens unmittelbar um rund 32 Prozent. Dieser externe Hinweis verweist darauf, dass selbst der Markt und unabhängige Analysten Zweifel an der Transparenz und Richtigkeit der Finanzberichte hatten, während die offiziellen Wirtschaftsprüfer weiterhin unentdeckt blieben. In den Augen vieler Experten spiegelt der Fall NMC Health eine tiefgreifende Krise des Vertrauens in die Wirtschaftsprüfung wider, vor allem wenn dieses Vertrauen von großen Firmen mit milliardenschwerer Marktkapitalisierung missbraucht wird. Die Rolle von Prüfungsunternehmen wie EY wird zunehmend hinterfragt, insbesondere hinsichtlich ihrer Fähigkeit und Bereitschaft, tiefgehende Prüfungen durchzuführen und bei Unregelmäßigkeiten zu intervenieren. Im Zusammenhang mit NMC Health ist auch von einem erklärten Versuch die Rede, versuchte Vertuschungsmaßnahmen – angeblich auch von EY selbst – durchzuführen, um eigene Versäumnisse im Prüfprozess zu kaschieren.
Dies widerspricht grundlegend dem Anspruch von Wirtschaftsprüfern, unabhängig, transparent und umfassend zu agieren. EY hat die Anschuldigungen bislang vehement zurückgewiesen und sich selbst als Opfer der betrügerischen Machenschaften dargestellt. Die Gesellschaft argumentiert, dass die Prozessvorwürfe gegen sie „ohne Grundlage“ seien und dass sie in dem Fall vor allem dem Schaden der Betrüger zum Opfer gefallen sei. Dieser Streit wird derzeit vor dem High Court ausgetragen, wobei der Insolvenzverwalter Alvarez & Marsal eine Forderung von rund 2 Milliarden Pfund gegen EY geltend macht. Sollte sich die Vorwürfe bestätigen, könnte dies nicht nur massive finanzielle Folgen für EY haben, sondern auch zu grundlegenden Reformen und einer erhöhten gesetzlichen Regulierung der Wirtschaftsprüfung führen.
Neben den juristischen Auswirkungen wirft der Fall von NMC Health auch ethische und wirtschaftliche Fragen auf. Er macht deutlich, wie wichtig es ist, dass Auditoren vollständig und uneingeschränkt Zugang zu Finanzinformationen erhalten, um effektiv ihrer Kontrollfunktion gerecht zu werden. Gleichzeitig wird der Ruf der Wirtschaftsbranche für unabhängige und transparente Prüfungen schwer beschädigt, wenn Versäumnisse derart gravierende Konsequenzen nach sich ziehen. Darüber hinaus ist der Fall ein warnendes Beispiel für Investoren, Regulierungsbehörden und das Management von Unternehmen, dass Vertrauen in Zahlen immer überprüft und durch robuste Kontrollmechanismen abgesichert werden muss. In einer globalisierten Wirtschaft, in der Finanzflüsse oft komplex und verschachtelt sind, wachsen die Anforderungen an Prüfungsprozesse und deren Qualität stetig.
Letztlich fordert das Scheitern bei der Aufdeckung des milliardenschweren Betrugs bei NMC Health eine Neubewertung der Wirtschaftsprüferrolle und der Prozesse rund um Transparenz und Kontrolle in Großunternehmen. Der Fall steht exemplarisch für die Risiken, die entstehen, wenn Prüfgesellschaften nicht mit der nötigen Gründlichkeit agieren – zum Schaden von Investoren, Mitarbeitern und der Öffentlichkeit. Die Zukunft der Wirtschaftsprüfung wird maßgeblich davon abhängen, wie etablierte Unternehmen wie EY auf diese Herausforderungen reagieren, ob sie ihre Prüfungspraktiken verbessern und wie die gesetzlichen Rahmenbedingungen angepasst werden, um solche Skandale künftig zu verhindern. Bis dahin bleibt der Fall NMC Health ein Mahnmal dafür, wie wichtig Detailverliebtheit, Misstrauen und die unbedingte Verpflichtung zur Transparenz bei der Prüfung und Kontrolle von Großunternehmen sind.