Die faszinierende Welt der Stickstoffverbindungen hat Chemiker seit Jahrzehnten in ihren Bann gezogen. Unter allen Elementen, die in der Natur vorkommen, nimmt Stickstoff eine besondere Stellung ein, vor allem aufgrund der Stabilität des molekularen Stickstoffs N2, das etwa 78 % der Erdatmosphäre ausmacht. Trotz seines Überflusses ist die Erzeugung reaktiver und energiereicher Stickstoffverbindungen eine große Herausforderung, nicht zuletzt wegen der starken Dreifachbindung im molekularen N2, die eine hohe kinetische Stabilität verleiht. Die Suche nach neuen Stickstoff-Allotropen – das sind verschiedene atomare Anordnungen ein und desselben Elements mit unterschiedlichen Eigenschaften – ist daher ein spannendes Gebiet, das potenziell bahnbrechende Anwendungen finden kann. Besonders interessant sind dabei neutrale molekulare Stickstoff-Allotrope mit hoher Energiedichte.
Nun ist die Synthese eines solchen Allotropes, des Hexanitrogens mit der Form C2h-N6, gelungen und bringt die Forschung auf diesem Gebiet entscheidend voran. Traditionell sind nur wenige neutrale Stickstoff-Allotrope bekannt. Das stabile N2-Molekül ist quasi die Naturform von Stickstoff und weist eine extrem starke Dreifachbindung auf, was es chemisch inert macht. Bisher hatte man nur sehr instabile und kurzlebige Moleküle wie den Azid-Radikal (N3•) im Gaszustand beobachtet oder flankierende ionische Verbindungen wie das Pentazolat-Ion (N5–) stabilisieren können. Die Herausforderung lag in der Synthese eines neutralen Hexanitrogen-Moleküls, das zugleich thermodynamisch und kinetisch ausreichend stabil ist, um untersucht werden zu können.
Im Juni 2025 veröffentlichten Weiyu Qian, Artur Mardyukov und Peter R. Schreiner in „Nature“ ihre bahnbrechende Studie über die erfolgreiche Vorbereitung des neutralen Hexanitrogens C2h-N6 und dessen Charakterisierung. Die Synthese erfolgte über eine innovative Methode, bei der Chlor- oder Bromgas mit festem Silberazid (AgN3) unter reduziertem Druck bei Raumtemperatur reagieren. Durch die anschließende Einbettung in Argon-Matrizen bei extrem tiefen Temperaturen von 10 Kelvin konnten die fragilen Reaktionsprodukte stabilisiert und spektroskopisch untersucht werden. Die Wahl von Silberazid als Edukt basiert auf dessen ausgezeichneter Eigenschaft als Polyazid-Vorläufer, welcher die Bildung komplexer Stickstoffmoleküle begünstigt.
Die Reaktion erzeugt verschiedene Zwischenprodukte einschließlich des gesuchten N6-Moleküls, das durch charakteristische Infrarot- und UV-Vis-Spektren nachgewiesen wurde. Der Infrarotspektren-Analytik kommt eine besondere Bedeutung zu: Die Messungen zeigen markante Banden bei spezifischen Wellenzahlen wie 2.076,6 cm–1, die eindeutig mit den Schwingungen der N6-Struktur korrelieren. Um die komplexen Schwingungsmuster gründlich zu verstehen, führten die Wissenschaftler Berechnungen auf höchstem ab initio Niveau durch, insbesondere mit Dichtefunktionaltheorie und CCSD(T), um sowohl die Harmonik als auch Anharmonik der Molekülschwingungen exakt zu modellieren. Isotopenmarkierungs-Experimente mit ^15N verifizierten zudem die Präsenz von zwei N3-Einheiten innerhalb des Moleküls und ließen Rückschlüsse auf die Symmetrie und den Aufbau zu.
Ein weiterer wichtiger Aspekt ist die elektronische Struktur des C2h-N6-Moleküls. Die Forschungsergebnisse zeigen, dass das Molekül eine lineare Struktur mit zwei N3-Einheiten verbindet. Diese Einheiten sind durch eine zentrale Einfachbindung verknüpft, die für die Stabilität und die energetischen Eigenschaften entscheidend ist. Die Molekülorbital-Berechnungen zeigten charakteristische π → π* elektronische Übergänge im UV-Bereich, welche durch die UV-Vis-Spektroskopie bestätigt wurden. Die elektronische Anregung bei etwa 422 nm korrespondiert mit einer schwachen Wechselwirkung, die bei der Bestrahlung zum Zerfall des Moleküls führt.
Aus energetischer Sicht ergibt sich für die Zerlegung von Hexanitrogen in drei N2-Moleküle eine komplexe Reaktionskinetik mit einer bemerkenswert hohen Aktivierungsbarriere von rund 14,8 kcal/mol bei Raumtemperatur. Dies verleiht dem Molekül eine gewisse kinetische Stabilität, wodurch es zumindest für die Dauer der Experimente erhalten bleibt und analysiert werden kann. Die sogenannte Quantentunneleffekt (QMT), der bei ähnlichen Stickstoff-Spezies oft zur schnellen Zerfallsreaktion führt, scheint hier eine untergeordnete Rolle zu spielen, sodass das Hexanitrogen auch bei tiefen Temperaturen eine Messzeit von vielen Jahren erreichen kann. Diese Stabilität gepaart mit der enormen Speicherkapazität chemischer Energie macht Hexanitrogen zu einem auspicious Kandidaten als Hochenergiematerial. Die Reaktionsenthalpie für die Umwandlung in elementares N2 ist mit über 185 kcal/mol ausgesprochen hoch und übersteigt damit deutlich die Energiedichte üblicher Untertage- und Raketentreibstoffe wie TNT oder HMX.
Berechnungen zur Detonationsgeschwindigkeit und zum Detonationsdruck bescheinigen C2h-N6 Werte, die mit denen von Hochleistungsexplosivstoffen konkurrieren können, was neue Möglichkeiten für deren Einsatz als saubere Energiespeicher ohne schädliche Verbrennungsprodukte eröffnet. Neben den experimentellen Arbeiten befanden sich umfangreiche theoretische Berechnungen im Fokus der Studie. Die Strukturoptimierungen, Energieprofile und elektronischen Analysen wurden mit modernster Software durchgeführt. Insbesondere die Visualisierung des elektronenbezogenen Laplacians sowie die Analyse der Elektronendichte zeigte deutlich die Schwachstellen und besonders reaktive Bindungen innerhalb der Struktur auf. Diese Daten helfen zu verstehen, wieso genau diese Anordnung von sechs Stickstoffatomen ein so ungewöhnlich hohes Maß an Stabilität erlangt und gleichzeitig eine hohe Energie enthält.
Die Bedeutung der Synthese des neutralen Hexanitrogens C2h-N6 geht weit über die initiale wissenschaftliche Neugier hinaus. Sie öffnet nicht nur Türen für die Entwicklung neuer Hochenergie-Materialien auf Basis von reinem Stickstoff, die bei der Zersetzung ausschließlich harmlosen N2 freisetzen, sondern stellt auch ein Fundament für weitere experimentelle und theoretische Forschungen im Bereich polynitrogener Verbindungen dar. Die bisherigen Versuche, höhere molekulare Stickstoff-Allotrope neutraler Art zu isolieren, waren durch deren extreme Instabilität geprägt. Die hier präsentierte Methode mit Silberazid und Halogenen im Gasgemisch bei Raumtemperatur stellt eine praktische Syntheseroute dar, die auch für verwandte Spezies adaptiert werden kann. Ebenso wichtig für die Zukunft ist die Umsetzung der experimentellen Verfahren in besser skalierbare und sichere Methoden, denn Silberazid und Halogenazide sind hochgradig explosiv und bedürfen spezieller Sicherheitsvorkehrungen.
Die Forscher mahnen daher zu größter Vorsicht und empfehlen die Durchführung der Experimente nur in entsprechend ausgestatteten Laboren mit wenigen Millimol Mengen dieser Substanzen. Die Entdeckung des Hexanitrogens C2h-N6 berücksichtigt auch den langfristigen Aspekt der Materialentwicklung für Energiespeicher und Treibstoffe, insbesondere im Kontext der Nachhaltigkeit. Da die Zersetzung ausschließlich volumenmäßig sehr stabile N2-Moleküle erzeugt, ergeben sich keinerlei umweltbelastende Verbrennungsprodukte wie bei traditionellen chemischen Energiespeichern. Somit könnte Hexanitrogen zukünftig in umweltfreundlichen Antriebssystemen oder Energiespeicherkonzepten eine wichtige Rolle spielen. Die veröffentlichten Daten in dem renommierten Fachjournal „Nature“ setzen neue Maßstäbe in der Stickstoffforschung.
Das Team aus Justus-Liebig-Universität Gießen hat damit weltweit erstmals einen neutralen polynitrogenen Stoff hergestellt, der über eine beachtliche Stabilität verfügt und spektroskopisch umfassend charakterisiert wurde. Sie dokumentieren damit den ersten Nachweis einer molekularen Stickstoffart jenseits des elementaren N2 im neutralen Zustand, was das bislang Dogma der Unauffindbarkeit neutraler Stickstoff-Allotrope in Frage stellt. Abschließend lässt sich festhalten, dass die Kombination aus experimentellen chemischen Methoden, moderner spektroskopischer Analyse und quantenchemischen Berechnungen maßgeblich zu dieser Entdeckung beigetragen hat. Die gezielte Auswahl der Reaktanden, die Anwendung tiefer Temperaturen zur Stabilisierung der Produkte sowie die Tatsache, dass das Hexanitrogen auch als reines Filmmaterial bei niedrigen Temperaturen erhalten bleibt, unterstreichen die Innovationskraft dieses Forschungsprojektes. Zukünftige Forschungsarbeiten werden sicherlich die Weiterentwicklung der Synthesemethoden, die Untersuchung der Reaktivität in größeren Mengen und die Möglichkeit der Stabilisierung bei höheren Temperaturen umfassen.
Darüber hinaus eröffnet sich ein neues Forschungsfeld um verwandte Polykationen oder Polyanionen, deren Eigenschaften und Anwendungen es ebenfalls zu erforschen gilt. Die Entdeckung von Hexanitrogen C2h-N6 erneuert somit das Interesse an polynitrogenen Verbindungen und stärkt das Potenzial, vollständig neue Energiematerialien zu schaffen, die sowohl leistungsstark als auch umweltfreundlich sind. Die Synthese von C2h-N6 symbolisiert nicht nur einen wissenschaftlichen Durchbruch, sondern könnte auch der Schlüssel für eine nachhaltige Energiezukunft sein. Das molekulare Design von reaktionsfähigen, aber gleichzeitig stabilen Stickstoffmolekülen revolutioniert die chemische Energiespeicherung und wird sicherlich in den kommenden Jahren weiterführende Innovationen inspirieren.