Orang-Utans gehören zu den intelligentesten Primaten und faszinieren seit jeher durch ihre komplexen Verhaltensweisen und kognitiven Fähigkeiten. Besonders interessant ist, wie sie in verschiedenen Umwelten Objekte erkunden und manipulieren. Neueste Forschungen belegen, dass wilde Orang-Utans und ihre im Zoo lebenden Artgenossen sich deutlich unterscheiden, wenn es darum geht, wie sie Gegenstände erforschen. Diese Unterschiede werfen ein neues Licht auf den Einfluss der Umgebung auf das Verhalten und die kognitive Entwicklung dieser beeindruckenden Tiere. Die Erforschung von Objekten, wissenschaftlich als Explorative Objektmanipulation (EOM) bezeichnet, ist ein zentraler Bestandteil der kognitiven Entwicklung bei vielen Säugetieren, einschließlich der Orang-Utans.
Bei menschlichen Kindern ist bekannt, dass das Erkunden von Objekten wichtige Lernprozesse anstößt und die spätere kognitive Leistungsfähigkeit fördert. Ähnliche Zusammenhänge werden inzwischen auch bei nicht-menschlichen Primaten bestätigt. Allerdings war bislang unklar, wie stark die Umwelt, in der Orang-Utans leben – sei es die natürliche Wildnis oder ein Zoo – ihr exploratives Verhalten und damit ihre kognitive Entwicklung beeinflusst. Untersuchungen, die über mehrere Jahre durchgeführt wurden, verglichen das Verhalten von über 50 Orang-Utans aller Altersklassen in Wildnis und Zoo. Dabei wurden etwa 12.
000 einzelne Explorationsepisoden erfasst und detailliert analysiert. Die Resultate zeigen, dass Orang-Utans in Zoos deutlich häufiger Objekte erkunden als ihre wilden Artgenossen. Sie weisen zudem eine größere Vielfalt an Erkundungsaktionen auf, verwenden unterschiedliche Körperteile zum Erkunden und integrieren häufiger mehrere Objekte gleichzeitig in ihre Exploration. Auch der Einsatz von Werkzeugen ist in Zoos häufiger dokumentiert worden. Dass die Häufigkeit und Vielfalt der Objekt-Erkundung in Gefangenschaft höher ist, liegt unter anderem an den unterschiedlichen Lebensbedingungen.
Zoos bieten eine sichere und kontrollierte Umgebung, in der die Tiere regelmäßig mit Nahrung versorgt werden und keine Feinde fürchten müssen. Dadurch haben die Orang-Utans mehr Zeit und Energie, sich ausgiebig mit Objekten zu beschäftigen. Zudem sind sie in den Zoos häufig mit vielfältigen und speziell auf ihre Bedürfnisse abgestimmten Beschäftigungsmaterialien ausgestattet, die viele unterschiedliche Eigenschaften wie unterschiedliche Formen, Größen, Farben und Materialien besitzen. Das bereichert nicht nur ihre sensorischen Erfahrungen, sondern ermöglicht auch eine Vielzahl neuer Handlungen und Kombinationsmöglichkeiten. Im Gegensatz dazu erkunden wilde Orang-Utans in ihren natürlichen Lebensräumen vor allem natürlich vorkommende Objekte wie Baumrinde, Blätter, Pilze oder Nester.
Während diese natürlich vorkommenden Objekte zwar variabel und komplex sein können, beschränken sie im Vergleich zu den oft künstlichen und vielfältigen Materialien in Zoos die Vielfalt der möglichen explorativen Handlungen. Zudem bewegen sich wildlebende Orang-Utans meist hoch in den Bäumen und müssen sich zum Teil mit Körperhaltungen beschäftigt halten, die nicht immer beide Hände für eine intensive Exploration frei machen. Zoo-orang-Utans hingegen verbringen oft mehr Zeit am Boden, was ihnen mehr Freiheit zur Handhabung und Erforschung von Gegenständen erlaubt. Die Altersentwicklung der explorativen Objektmanipulation zeigt paradoxerweise in beiden Umgebungen ähnliche Verläufe. Bei beiden Gruppen erreichen die Explorationsraten ihren Höhepunkt in jungen Jahren, sodass junge Orang-Utans besonders intensiv und vielfältig erkunden, was eine wichtige Rolle für das Lernen und die Entwicklung motorischer und kognitiver Fähigkeiten spielt.
Mit zunehmendem Alter nimmt die Häufigkeit des Explorierens ab, jedoch steigt die Vielfalt der genutzten Erkundungshandlungen und die Komplexität der Manipulationen. Die Tatsache, dass das Alter des erstmaligen Auftretens bestimmter Explorationshandlungen bei beiden Gruppen gleich ist, deutet auf eine harte, genetisch programmierte Sequenz der Entwicklung manipulativer Fähigkeiten hin – selbst unter unterschiedlichen Umweltbedingungen. Die Erwähnung, dass zoo-haltung die Erkundungskreativität verstärkt, lässt einen spannenden Interpretationsspielraum zu. So bieten Zoos aufgrund der Vielzahl an Beschäftigungsmaterialien und der sicheren Umwelt nicht nur einen erweiterten Zugang zu vielfältigen materiellen Reizen, sondern fördern wahrscheinlich auch die Fähigkeit, komplexe Werkzeuge zu nutzen und Kombinationen von Objekten zu erforschen. Dies wiederum könnte zu einer breiteren kognitiven Leistungsfähigkeit führen, etwa beim Lösen neuartiger Probleme.
Solch höhere kognitive Fähigkeiten in Gefangenschaft können allerdings dazu führen, dass Studien mit Zoo-Tieren nicht ohne Weiteres auf wildlebende Orang-Utans oder andere Primatenarten übertragbar sind. Diese sogenannten „Captivity Bias“ Effekte stellen eine Herausforderung für die vergleichende Kognitionsforschung dar. Während Zoos eine unschätzbare Möglichkeit bieten, Primatenstudien unter kontrollierten Bedingungen durchzuführen, müssen Forscher die Umwelteinflüsse auf das Verhalten und die Entwicklung ihrer Probanden genau berücksichtigen. Unterschiede in der täglichen Umwelt, im sozialen Kontakt und der Verfügbarkeit von kognitiv herausforderndem Beschäftigungsmaterial führen zu einer unterschiedlichen „kognitiven Stimulation“ und beeinflussen Entwicklungsverläufe und Verhaltensweisen entscheidend. Soziale Faktoren spielen ebenfalls eine wichtige Rolle.
Orang-Utans in Zoos haben oft intensiveren Kontakt zu Menschen und soziale Interaktionen, die bei wildlebenden Artgenossen so selten sind. Diese sozialen Erfahrungen sind dafür bekannt, kognitive Fähigkeiten zu fördern und Explorationsmotivation zu steigern. Die Wechselwirkung zwischen sozialer und physischer Umwelt ist entscheidend für die kognitive Entwicklung. Am Beispiel der Orang-Utans zeigt sich somit exemplarisch, dass kognitive Fähigkeiten stets im Kontext ihrer Umwelt zu verstehen sind. Objekt-Erkundung ist ein Schlüsselverhalten, das Wissen vermittelt, sensorische und motorische Skills fördert und ein wichtiger Baustein für komplexere kognitive Leistungen wie Problemlösen und Innovation ist.
Die Studie verdeutlicht eindrücklich, dass die natürlichen Bedingungen und die in Gefangenschaft herrschenden Umwelten unterschiedliche Entwicklungspfade ermöglichen, wobei das angeborene Potential der Art nicht überschritten, sondern durch die Umwelt erweitert oder eingeschränkt wird. Darüber hinaus werfen die Ergebnisse wichtige ethische Fragen zur Haltung hochentwickelter Primaten auf. Wenn Zoos Bedingungen schaffen, die das explorative Verhalten und damit wohl die kognitive Aktivität fördern, spricht dies für den Nutzen kognitiver Bereicherungskonzepte in der Haltung. Zugleich verdeutlichen die Unterschiede aber auch, wie stark die Umwelt das Verhalten beeinflussen kann – was bei naturschutzbezogenen Freilandprogrammen oder Wiederauswilderungsprojekten berücksichtigt werden muss. Insgesamt unterstreicht die vergleichende Analyse von Wild- und Zoo-orang-Utans die Notwendigkeit differenzierter Sichtweisen in der Kognitionsforschung.
Sie macht jedoch auch Hoffnung, dass durch gezielte Förderung der kognitiven Umwelt bei Gefangenschaftstieren deren Potential voll ausgeschöpft werden kann, was sowohl ihrem Wohlbefinden als auch wissenschaftlichen Erkenntnissen zugutekommt. Werden orang-Utans in Zoos mit geeigneter Ausgestaltung der Umgebung und angereichertem Spielmaterial versorgt, können sie ihre natürlichen Explorationsmuster zwar beibehalten, aber auch erweitern. Die daraus resultierende größere Handlungspalette kann eine Grundlage für erfolgreiches Lösen neuartiger Probleme sein. Diese Erkenntnisse können zudem helfen, artgerechtere Haltungsbedingungen zu gestalten, welche die geistige Gesundheit und das Wohlbefinden der Tiere nachhaltig verbessern. Die Erforschung des explorativen Verhaltens von Orang-Utans zeigt also mehr als nur Unterschiede in der Frequenz oder Vielfalt von Objektmanipulationen.