Die antarktische Unterwasserwelt gilt als eine der ursprünglichsten und am wenigsten beeinträchtigten Ökosysteme der Erde. Sie umfasst einzigartige Arten, die sich über Jahrtausende in extremen Umweltbedingungen entwickelten und an ihre fragile Umgebung angepasst sind. Darunter zählen auch einige der ältesten lebenden Wesen unseres Planeten, wie riesige Vulkanschwämme, die schätzungsweise über 15.000 Jahre alt werden können. Doch diese faszinierenden und wertvollen Kreaturen sind zunehmend durch menschliche Aktivitäten bedroht, speziell durch das Verankern von Kreuzfahrtschiffen in den flachen Küstengewässern der Antarktis.
Wissenschaftler haben erstmals eindeutige Videobeweise gesammelt, die zeigen, wie Ankerketten massive Schäden an den sensiblen Meeresböden hinterlassen und dabei die uralten Schwammkolonien zermalmen sowie den Boden abreißen. Dieser umweltproblematische Einfluss ist besonders alarmierend, weil er langfristige, möglicherweise irreparable Folgen für die lokale Biodiversität und die Stabilität des marinen Ökosystems hat. Die Schäden reichen weit über das unmittelbare Gebiet der Ankerplätze hinaus und betreffen ganze Lebensgemeinschaften, die über Jahrtausende gewachsen sind. Die betroffenen Schwämme gehören zur Art Anoxycalyx joubini, die mit einer Höhe von bis zu zwei Metern beeindruckend groß und wirtschaftlich sowie ökologisch bedeutsam sind. Sie filtern Wasser, speichern Kohlenstoff und bieten zahlreichen anderen Meeresorganismen Lebensraum und Schutz.
Doch durch mechanische Einwirkungen wie das Einschlagen und Schleifen von schweren Ankerkette wird ihr empfindliches Gewebe zerstört, Kolonien zerstört und die gewachsene Komplexität des Lebensraumes vermindert. Die Erholung solcher Systeme ist extrem langsam und kann Jahrzehnte bis Jahrhunderte dauern, denn viele antarktische Meeresbewohner wachsen sehr langsam und sind dauerhaft am Meeresboden verankert. Anders als tropische Korallenriffe, die sich theoretisch über mehrere Jahre regenerieren können, sind die Lebensbedingungen in der Antarktis deutlich härter. Die kalten und nährstoffreichen Gewässer fördern zwar das Überleben langlebiger Arten, verlangsamen aber zugleich Wachstums- und Regenerationsprozesse erheblich. Die Situation wird durch das rapide Wachstum des Tourismus in der Region noch verschärft.
In der Saison 2022-2023 erreichten die Passagierzahlen einen historischen Höchststand mit über 70.000 Besuchern, die mit mehr als 70 Schiffen die Antarktis bereisten. Die meisten Kreuzfahrtschiffe operieren in flachen Küstengewässern, um Zugang zu attraktiven Routen und Sehenswürdigkeiten zu haben. Genau dort, wo besonders empfindliche und langsamwachsende Organismen wie Vulkanschwämme, Seesterne, Weichkorallen und andere wirbellose Tiere leben, verankern die Schiffe ihre Anker. Die entstandenen Schäden sind zudem nicht nur durch mechanische Einflüsse begrenzt.
Wenn Anker hochgezogen werden, wirbeln sie großen Mengen Sediment auf, das sich auf den umliegenden Lebensräumen absetzt und die Lebensbedingungen weiter verschlechtert. Durch den Verlust der Lebensstruktur wird nicht nur die Fauna beeinträchtigt, sondern auch das ökologische Gleichgewicht gestört. Vielfalt und Netzwerk von Nahrungsbeziehungen können zusammenbrechen. Die größte bisher dokumentierte Untersuchungsreihe erfolgte an mehreren Standorten wie der Antarktischen Halbinsel, dem Weddellmeer, den Südlichen Shetlandinseln sowie Südgeorgien. Während 36 Tauchgängen wurden mit modernster 4K-Kameratechnik über 60 Stunden Unterwasserfilmmaterial gewonnen, das die Schäden durch Ankerkette erstmals klar zeigt.
Besonders am Beispiel von Yankee Harbour, einem beliebten Ankerplatz für Touristen, ließ sich das Ausmaß an Zerstörung erkennen. Schon in einem Zeitraum von einem Monat wurden allein acht Passagierschiffe dort verankert und insgesamt mindestens 1.600 Meter Meeresboden auf mechanische Weise geschädigt. Derzeit gibt es jedoch keine öffentliche Datenbank, die alle Verankerungen erfasst oder Auswirkungen systematisch überwacht. Die Wissenschaftler warnen deshalb, dass ohne sofortige und verbindliche Schutzmaßnahmen ein weiterer expansiver Rückgang dieser einzigartigen Ökosysteme droht.
Der Ausbau der Tourismus- und Schifffahrtsaktivitäten sowie Klimawandel bedingen eine erhöhte Belastung der antarktischen Küstengebiete. Durch weniger Meereis öffnen sich neue Gebiete für Schiffsverkehr und Ankerungen, wodurch bislang unberührte Lebensräume in Gefahr geraten. Die Forscher fordern daher, dass an stark frequentierten Stellen dauerhafte Verankerungen eingerichtet werden, um das Herumschleifen schwerer Ankerketten zu verhindern. Zudem sollten Gebiete mit besonderem ökologischen Wert als Schutzreservate ausgewiesen werden, in denen Ankerungen strikt untersagt sind. Alternativ können Schiffe die vielfach verfügbare dynamische Positionierung nutzen, die es ermöglicht, ohne Ankern den Standort zu halten und so den Meeresboden zu schonen.
Bereits heute verfügen viele moderne Schiffe über solche Systeme, wodurch ein Schutz der sensiblen Lebensräume technisch realisierbar ist. Um die Schäden langfristig zu kontrollieren, sind außerdem umfassende und öffentliche Informationssysteme notwendig, die alle Schiffbewegungen und Verankerungen dokumentieren. Nur so kann die Forschung realistische Einschätzungen über das Ausmaß der Beeinträchtigung und mögliche Erholungszeiten liefern. Das schützt vor unerwarteter Verschlechterung der Meeresumwelt. Die drohenden Verluste von bis zu 15.
000 Jahre alten Lebewesen würden nicht nur einen kulturellen und wissenschaftlichen Verlust bedeuten, sondern hätten auch Auswirkungen auf funktionale Ökosystemleistungen, welche die Küstengewässer stabilisieren und für andere Leben essenziell sind. Der Schutz der antarktischen Meereswelt ist daher von globaler Bedeutung. Touristen reisen in die Antarktis, um eine der letzten weitestgehend unberührten Wildnisregionen der Erde zu sehen. Ihr Besuch darf nicht zum Problem für die Urzeitwesen werden, die diesen Lebensraum prägen und formen. Es gilt, ein Gleichgewicht zwischen menschlichem Interesse und Umweltschutz zu finden, das nachhaltiges Reisen ermöglicht ohne die Lebensgrundlagen dieser besonderen Arten zu zerstören.
Unumstritten ist, dass die Balance zwischen Tourismus und Naturschutz zunehmend herausfordernd wird. Die internationale Zusammenarbeit, wissenschaftliche Forschung und technologischer Fortschritt müssen genutzt werden, um gezielte Schutzmaßnahmen umzusetzen. Nur mit raschem Handeln kann verhindert werden, dass die antarktischen Urzeitwesen unter den Ankern moderner Kreuzfahrtschiffe zu bloßem Kollateralschaden unserer Zeit werden.