Das Geräusch von Taubenpfeifen gilt als eines der charakteristischsten akustischen Erlebnisse des alten Pekings. Wer jemals einen Film über das historische Peking gesehen hat, kennt das Bild einer Taubenschwärme, die über die typischen Vierseithöfe (Siheyuan) fliegen und dabei einen unverwechselbaren harmonischen Klang erzeugen. Dieses Klangbild hat sich tief in das kollektive Gedächtnis der lokalen Bevölkerung eingebrannt und ist eines der wenigen Überbleibsel, das den Geist vergangener Zeiten bewahrt. In der authentischen Atmosphäre Pekings nennt man neben typischen Spezialitäten wie fermentiertem Sojadrink und Youtiao (frittierte Teigstangen) oft auch die Glocken- und Trommelturmklänge, den blauen Himmel, die weißen Wolken und eben das berühmte Taubenpfeifen als Sinnbild der Stadt. Das Taubenpfeifen, auch als Taubenglöckchen bekannt, besteht aus kleinen Pfeifen, die an den Schweifen der Tauben befestigt werden.
Beim Fliegen entsteht durch den Luftstrom ein melodischer Pfeifton, der in seiner Harmonie oft mit einer symphonischen Darbietung verglichen wird. Über Jahrhunderte haben die Bewohner Pekings die Taubenzucht gepflegt und es gehörte zur täglichen Routine, die Vögel über die Dächer und Höfe steigen zu lassen. Dabei war es unwichtig, ob ein frischer Frühlingsmorgen oder ein klarer Herbsttag war: Der Anblick der fliegenden Taubenschwärme und das Klirren der Pfeifen waren selbstverständliche Begleiter des städtischen Lebens. Bis in die 1950er Jahre hinein waren belebte Taubenmärkte ein fester Bestandteil Pekings und auch auf traditionellen Tempelmärkten konnten die Vögel erworben werden. Der Klang der Taubenpfeifen wurde sogar von kulturellen Ikonen wie Mei Lanfang, dem berühmten Peking-Oper-Künstler, als „Symphonie am Himmel“ bezeichnet, was die emotionale und kulturelle Bedeutung dieses urbanen Phänomens unterstreicht.
Allerdings brachte der rasche Wandel der Stadt und die zunehmende Modernisierung Pekings auch eine Abnahme der Taubenzucht mit sich. Die charakteristischen Taubenpfeifen sind heute selten geworden und haben sich vom Alltagsgeräusch zur wertvollen Sammlerobjekten und zum kulturellen Erbe gewandelt. Kein Wunder also, dass das Kunsthandwerk der Taubenpfeifen 2014 in die Liste des immateriellen Kulturerbes Pekings aufgenommen wurde. Die Geschichte der Taubenpfeifen reicht weit zurück. Bereits während der Nördlichen Song-Dynastie (960-1127) finden sich Hinweise darauf, dass die westliche Xia-Königreicharmee solche Pfeifen zur militärischen Kommunikation verwendete.
Schon zur Zeit der Südlichen Song-Dynastie (1127-1279) hatten sich die Pfeifen auch unter einfachen Bürgern etabliert. Während der Friedenzeit der frühen Qing-Dynastie (1644-1911) entwickelten die Soldaten der Acht Banner Garnison in Peking ihre Freizeitbeschäftigungen weiter und kultivierten so leidenschaftlich die Vogelzucht neben weiteren Hobbys wie Treibjagd auf Fische oder das Züchten von Grillen. Daraus erwuchsen maßgebliche handwerkliche Verfeinerungen und ästhetische Ansprüche an die Pfeifen, die wiederum die Entwicklung eines speziellen Taubenpfeifenkults zur Folge hatten. Das Aufziehen von Tauben hieß in der Sprache Pekings „Tauben kreisen lassen“ und war ein besonders beliebtes Ritual. Zweimal täglich - morgens und abends - ließen die Vogelbesitzer ihre Tauben frei fliegen, bis diese in die Höhe stiegen und scheinbar den Himmel berührten.
Die Kombination aus dem Ruf der Tauben, dem Klang der durchströmten Pfeifen und der Neugier der Passanten, die nach der Quelle dieses Himmelsorchesters suchten, erzeugte eine Atmosphäre voller Freude und Zufriedenheit bei den Haltern. Verschiedene Arten von Taubenpfeifen prägten die Klanglandschaft Pekings. Gefertigt wurden die Pfeifen meistens aus Bambus oder Kürbissen. Die Hohlräume darin dienten als Resonanzräume, während eine sorgfältig eingeätzte Tonkammer den charakteristischen Klang erzeugte. Es gibt vier Haupttypen: den Kürbis-Typ, der weiche und tiefere Klänge erzeugt, den röhrenförmigen Typ mit klaren, scharfen Tönen, den Plattform-Typ mit mehreren Röhren zur Erreichung komplexerer Klangfarben und den Kombi-Typ, der beide Prinzipien miteinander verbindet.
Durch strenge Regeln bezüglich der Tonabstände – beispielsweise große Sekunden oder kleine Terzen – entstand eine wohlklingende Harmonie, die sich je nach Zusammenspiel der Tauben unterschiedlich entfaltete. Besonders beeindruckend war der Klangvollklang, wenn eine Gruppe von Tauben in synchronisierten Richtungswechseln ihre Pfeifen zum Klingen brachte und so akustisch an ein großes Vögelorchester erinnerte. Die Handwerkskunst war darauf ausgerichtet, die Pfeifen so leicht wie möglich zu gestalten, um die Flugfähigkeit der Tauben nicht zu beeinträchtigen. Auch wenn sie mit Lack überzogen waren, wiegten sie nicht mehr als etwa acht Gramm. Die Produktion der Pfeifen war ein detailreicher Prozess.
Angefangen bei der Gestaltung, der Materialauswahl, dem sorgfältigen Aushöhlen, Schneiden, Anpassen, Kleben, Schleifen bis hin zum abschließenden Lackieren, nahm die Herstellung selbst der einfachsten Pfeife mehrere Tage in Anspruch. Besonderer Fokus lag auf einem klaren und harmonischen Klangbild. Die Pfeifen wurden an den vier mittleren Schwanzfedern der Tauben befestigt, wobei die Öffnung nach vorne gerichtet war. Damit saß die Pfeife stabil zwischen den Federn und bewegte sich nicht einmal bei schnellen Flugmanövern. In Peking entwickelten sich während der Qing-Dynastie acht Hauptmeister des Taubenpfeifenhandwerks, deren Namen auf den Pfeifen eingraviert waren und somit als Künstlerunterschrift galten.
Diese Tradition setzte sich bis in die Republik China fort, darunter Werkmeister wie Tao Zuowen mit dem Zeichnenamen „Wen“. Heute ist diese Handwerkskunst stark vom Aussterben bedroht, da immer weniger Menschen die Kunst erlernen und die Taubenzucht immer seltener betrieben wird. Zu den wichtigsten Erhaltern und Erben des kulturellen Erbes zählt Zhang Baotong. Von Beruf Ingenieur, erlernte Zhang als Kind das Handwerk der Pfeifenherstellung bei seinem Nachbarn und Kunsthandwerker Tao Zuowen, den er bis zu dessen Tod betreute. Zhang perfektionierte nicht nur die Techniken, sondern entwickelte auch neue Designs, darunter die erstmalige Nutzung von Walnussschalen als Material.
Durch seine Innovationskraft und sein Engagement konnte das Taubenpfeifenhandwerk fortbestehen und Zhang brach die traditionelle Zurückhaltung, keine Schüler aufzunehmen, um sein Wissen an neue Generationen weiterzugeben. So leben mittlerweile schon die Nachfolger der vierten Generation unter seiner Anleitung und setzen die Filigrankunst in die Gegenwart. Trotz wachsender Verdichtung und Modernisierung Pekings, in der traditionelle Innenhöfe durch Hochhäuser ersetzt wurden und der Lebensraum für Tauben zunehmend schwindet, gelingt es durch den Einsatz moderner Initiativen, die Erinnerung an den Klang der Taubenpfeifen zu bewahren. 2012 eröffnete die Stadt die erste Klangmuseum, das dokumentiert und bewahrt, was im rasanten Wandel der Metropole droht zu verschwinden – darunter die ursprünglichen Klänge Pekings und ganz besonders das Taubenpfeifen. Das Taubenpfeifen steht damit nicht nur für eine musikalische Eigenart, sondern für den kulturellen Reichtum und die nostalgische Sehnsucht nach einer vergangenen urbanen Lebenswelt.
Sie erinnert an eine Zeit, in der Mensch und Natur in einer Großstadt ganz intuitiv miteinander verbunden waren. Heutzutage ist diese fast schon verlorene Klanglandschaft ein wichtiger Teil des kulturellen Gedächtnisses Pekings, der dank engagierter Erben und musealer Bewahrung weiterlebt und zugleich dazu einlädt, die Geschichte und Traditionen einer der faszinierendsten Metropolen der Welt tiefer zu entdecken.