Die Frage, wie moderne Dichter mit der Tradition des epischen Gedichts umgehen sollten, beschäftigte viele Kreative des frühen 20. Jahrhunderts intensiv. Während die traditionelle Epik durch eine straffe Struktur und einen umfassenden erzählerischen Rahmen gekennzeichnet ist, stellte der Modernismus die Voraussetzungen für solch große, einheitliche Werke infrage. Die komplexe und oft bis zur Selbstreferenzialität ausgebaute Auseinandersetzung mit dem eigenen poetischen Ich, die experimentelle Sprache und die fragmentarische Textstruktur waren Merkmale, die ein klassisches episches Format herausforderten. Durch die Analyse eines Zyklus von Werken, von Ezra Pounds „Cantos“ über William Carlos Williams’ „Paterson“ bis hin zu David Jones’ «In Parenthesis», lassen sich unterschiedliche Wege beobachten, wie moderne Dichter dieses Spannungsfeld bewältigen wollten.
Ezra Pound, einer der zentralen Figuren der Moderne, verlieh dem Versuch, das Große und Ganze zu erfassen, mit seinen „Cantos“ eine monumentale Gestalt. Die Arbeit an diesem Werk erstreckte sich über Jahrzehnte, in denen Pound versuchte, Erinnerungen, Geschichte, Mythologie und Politik zu verbinden. Während die frühen Kapitel der Cantos als vielversprechend galten, erkannten Kritiker bald die Schwächen in Pounds Herangehensweise. Die Fragmentierung, scheinbare Willkürlichkeit der Themen und eine zunehmende ideologische Verblendung durch seine Sympathien für den Faschismus schaden dem Gesamtbild erheblich. Anstelle eines geordneten Epos entsteht ein oft schwer verständlicher und inhaltlich problematischer Monolith.
Die Pisan Cantos, entstanden während Pounds Zeit in Internierung, zeigen eine deutliche stilistische und inhaltliche Verbesserung, doch auch sie können nicht vollständig entflechten, wie sehr Vorurteile und persönliche Auseinandersetzungen Pounds Werk durchziehen. William Carlos Williams unternahm mit „Paterson“ einen anderen Versuch, die amerikanische Erfahrung und das innere Leben des Dichters in einem langen Werk zu verweben. Wie bei Pound zeigt sich auch hier ein Anfang, der als ausgesprochen gelungen gilt: Das erste Buch besitzt eine lyrische Kraft und eine humorvolle, unprätentiöse Nähe zum urbanen Alltag von Paterson, New Jersey. Doch im Verlauf der weiteren Bücher werden Struktur und poetische Kohärenz schwächer, und die Kritik prägte die Beobachtung, dass das Werk zunehmend selbstbezogen, exzentrisch und selbstindulgent wirkte. Die schiere Dauer und das wiederholte Bearbeiten führten zu einer thematischen Erschöpfung, die viele Leser überforderte oder abstieß.
Die Ambition, ein „never-ending epic“ zu schaffen, führte hier aufgrund des Mangels an konzentrierter Narration oft in die Irre. Im Gegensatz zu Pound und Williams fasziniert Mina Loy gerade durch ihre Ablehnung eines bewusst angelegten Epos. Obwohl sie sich nie explizit mit der großen epischen Form auseinandersetzte, weisen ihre Werke eine innere Geschlossenheit und Vielschichtigkeit auf, die eine Art episches Gefüge implizieren. Loy, bekannt für ihr feministisches Engagement, etwa in der „Feminist Manifesto“, bringt eine persönliche und politische Strenge ins Werk, die den umfassenden Epos in Miniatur widerspiegelt. Ihre Gedichte zeigen ebenso eine kritische Haltung gegenüber traditionellen patriarchalen Strukturen wie eine anspruchsvolle stilistische Brillanz.
David Jones wiederum bietet eine spannende Mischung aus Tradition und Innovation. Seine Werke „In Parenthesis“ und „The Sleeping Lord“ sind groß angelegte poetische Erzählungen, die den Krieg, die Mythologie und die Landschaft in einem dichten Geflecht verbinden. Beeindruckend ist seine Fähigkeit, epische Dimensionen zu schaffen und dennoch klare Anfangs- und Endpunkte für seine Werke zu setzen. Im Unterschied zu den langwierigen Bearbeitungen von Pound und Williams gelingen Jones Abschlüsse, die die Werke als abgeschlossene Ganzheiten empfänglich machen und somit die Grundintention eines Epos widerspiegeln: ein abgeschlossenes, bedeutungsvolles Ganzes. Ein wichtiger Bezugspunkt für die moderne epische Tradition ist Walt Whitman.
Mit seiner „Leaves of Grass“ setzte er einen Maßstab für den amerikanischen Epos, der durch permanente Revisionen und Hinzufügungen gekennzeichnet ist. Anders als bei Pound und Williams erfolgten bei Whitman diese Änderungen zwar über Jahrzehnte, jedoch wurden nicht nur fragliche Passagen überarbeitet, sondern auch zahlreiche widerhallende Gedichte von hohem literarischem Wert hinzugefügt. Die andauernde Überarbeitung seiner Werke setzte Maßstäbe, die spätere amerikanische Modernisten zu imitieren oder zu hinterfragen versuchten. Interessanterweise zeigt sich dabei eine Querverbindung zu Pounds „Anxiety of Influence“, eine Art existentielle Rivalität, die in seinem berühmten Gedicht „A Pact“ spürbar wird, wo Pound seine Versöhnung mit Whitmans Einfluss beschreibt – wenngleich mit einer gewissen Arroganz im Ton. Die Kritik an der Selbstbezogenheit und der oftmals schwer verständlichen Sprache der modernen „Epen“ berührt einen zentralen Konflikt des Modernismus: die Spannung zwischen anspruchsvoller dichterischer Innovation und der Gefahr der Abschottung der Leser durch übermäßige Komplexität.
Auch die politische Haltung vieler Dichter beeinflusst maßgeblich die Rezeption ihrer Werke. Pound wird neben seiner literarischen Bedeutung oft aufgrund seiner faschistischen Sympathien abgelehnt, was der Widmung zum „Pisan Cantos“ eine ambivalente Note verleiht. Diese Verquickung von moralischen und ästhetischen Judikaten erschwert eine klare Bewertung, führt aber auch zu einem reflektierten Umgang mit der modernen Epik. Die Frage, warum viele amerikanische Autoren scheinbar Schwierigkeiten haben, ein abgeschlossenes episches Werk zu schaffen, könnte auch in kulturellen und literarischen Traditionen liegen. Whitmans nach Lebenszeit vielfach bearbeitete und erweiterte „Leaves of Grass“ könnten hierbei eher Modell als Ursprung eines Problems sein.
Die ewige Revision und der Versuch dauerhafter Perfektion stehen im Spannungsverhältnis zur klassischen Vorstellung von Epik als bleibender und abgeschlossener Größe. Letztlich bietet die Betrachtung moderner Dichter und ihres Umgangs mit epischen Formen wertvolle Einsichten in das Verhältnis von Tradition und Neuerung, Selbstinszenierung und gesellschaftlicher Einbindung. Der moderne Epos erscheint weniger als fest umrissene Form, sondern vielmehr als offenes Projekt, das in seinen besten Momenten durch innere Kohärenz, innovative Sprache und stilistische Präzision überzeugt. Durch die kritische Auseinandersetzung mit den großen Vertretern wie Pound, Williams, Loy oder Jones wird sichtbar, dass das Epos in der Moderne vielfältige Erscheinungsformen annehmen kann – von großen literarischen Expansionsbestrebungen bis hin zu konzentrierten, vielschichtigen Werkzyklen. Diese fortwährende Debatte um die Aktualisierung oder Ablehnung des Epos verdeutlicht auch die anhaltende Relevanz der Form.
In einer Zeit komplexer literarischer und politischer Umwälzungen ist die Frage nach der Rolle großer, zusammenhängender Werke keinesfalls beantwortet. Vielmehr zeigt sich, dass das epische Gedicht im modernen Zeitalter herausgefordert, aber keineswegs überflüssig ist, sondern durch kreative Neuerfindungen weiterhin zum wichtigsten Medium des poetischen Denkens zählt.