Vietnam galt einst als aufstrebender Standort für die Formel 1 und sorgte weltweit für Aufsehen, als 2018 die Einführung des ersten Vietnamese Grand Prix unter der neuen Führung von Liberty Media bekanntgegeben wurde. Die Pläne waren ambitioniert: Ein 3,5 Meilen langer Stadtkurs in Hanoi, der nicht nur bestehende Straßen, sondern auch speziell angelegte Abschnitte kombinieren sollte, um ein Rennspektakel der Extraklasse zu bieten. Das Projekt wurde von Hermann Tilke entworfen, dem renommierten Streckendesigner, der mehrfach an ikonischen Rennkursen weltweit mitwirkte. Mit einem Budget von etwa 600 Millionen US-Dollar flossen erhebliche Mittel in die Infrastruktur, um eine weltweit beachtete Veranstaltung auf die Beine zu stellen – doch das Schicksal schlug anders ein. Die Bühne für das Rennen war schnell vorbereitet.
Im März 2019 begannen die Bauarbeiten an den eigens errichteten Streckenabschnitten und den dazugehörigen Einrichtungen wie den Boxengebäuden und Tribünen. Weniger als ein Jahr später, im Frühjahr 2020, sollten Fahrer aus aller Welt zum ersten Mal über den neu angelegten Kurs rasen. Doch die globale Ausbreitung der Covid-19-Pandemie stellte die Geplanten vor enorme Herausforderungen. Die Gesundheitssicherheitsmaßnahmen und Reisebeschränkungen führten zunächst zu einer Verzögerung des Rennens. Doch nicht nur die Pandemie verhinderte das Debüt des Vietnamesischen Grand Prix.
Kurz vor dem geplanten Rennen erschütterten Korruptionsvorwürfe gegen den damaligen Vorsitzenden des Hanoi People's Committee, Nguyễn Đức Chung, die organisatorische Basis. Obwohl die Anschuldigungen nicht direkt im Zusammenhang mit dem Rennen standen, war die öffentliche Wahrnehmung zerstört und das Vertrauen in die Durchführung der Veranstaltung tief erschüttert. Dies führten dazu, dass der Grand Prix letztendlich von der Formel-1-Kalender gestrichen wurde und seitdem auch nicht wieder in Erscheinung trat. Heute, fünf Jahre nach den großen Plänen und der umfangreichen Investition, präsentiert sich die Rennstrecke in einem Zustand des Verfalls und der Verwilderung. Drohnenaufnahmen und Eindrücke von Urban-Explorern zeigen eine Szenerie, in der die Natur langsam zurückerobert, was einst für Hochgeschwindigkeitsrennen geschaffen wurde.
Die einst makellosen Asphaltstrecken zeigen rissige Oberflächen, aus denen Pflanzen sprießen. Straßenmarkierungen sind verblasst, kaputte Beleuchtungen und rostige Geländer verstärken den Eindruck des Verfalls. Die pittoreske Kulisse der Boxenanlage wirkt paradox. Aus der Ferne erscheint das Gebäude erstaunlich gut erhalten, fast so, als wäre der Tag des Rennens nur kurz verschoben. Doch bei näherer Betrachtung zeigen sich deutliche Anzeichen von Vernachlässigung.
Algenbefall, fein sichtbare Abnutzungen und Verschmutzungen haben die ehemals repräsentativen Strukturen gezeichnet. Wo einst F1-Piloten und Teams unter Hochdruck vollen Einsatz geben sollten, herrscht nun eine bedrückende Stille. Die Nutzung der Stadtstraßen selbst hat sich nur marginal verändert. Die während der Bauphase für den Grand Prix temporär gesperrten Wege sind wieder in den täglichen Verkehr integriert. Motorräder und Lieferfahrzeuge durchqueren die Straßen und tragen das geschäftige Treiben Hanois weiter fort, während sich die Überreste des Projekts wie Relikte inmitten der pulsierenden Metropole anfühlen.
Die Straßenbeleuchtung, die eigentlich die nächtliche Atmosphären schaffen sollte, wurde außer Betrieb gesetzt und überlässt so den Himmel dem natürlichen Wechsel von Tag und Nacht. Dieses verlorene Kapitel der Formel 1 erinnert daran, wie eng sportliche Großveranstaltungen mit politischen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen verknüpft sind. Das Beispiel Vietnams verweist auf Risiken, die entstehen, wenn Infrastrukturprojekte mit großen Erwartungen schlagartig durch unvorhergesehene Umstände ausgebremst werden. Die erheblichen Investitionen hinterlassen dabei nicht nur materielle Schäden, sondern auch eine belastete Geschichte und nicht zuletzt eine komplexe Perspektive auf die Zukunft des Motorsports in der Region. Abseits der physischen Gegebenheiten findet das Rennen in der digitalen Welt dennoch statt.
2020 wurde die Hanoi-Strecke in populären Rennsimulationsspielen umgesetzt und in der F1-Esports-Liga verwendet. So hat die Strecke eine gewisse Art von Leben erhalten, wenn auch nur virtuell. Für Fans der Formel 1 bietet das virtuelle Rennen heute eine Möglichkeit, die einst geplante Strecke doch zu erleben, auch wenn reale Boliden nie dort fuhren. Während die Natur das Terrain zurückerobert, wächst die Symbolkraft des verlassenen Rennprojekts. Es steht als Mahnmal für geplatzte Träume, politische Verwicklungen und die Unberechenbarkeit der Weltlage.
Doch auch als Authentizität für Vergänglichkeit und Wandel hat es seinen Wert. Die Natur, die sich ihren Platz Stück für Stück zurückholt, spiegelt dabei die Dynamik, mit der Städte und Projekte ständig transformiert werden – manchmal durch den Fortschritt, manchmal durch das Scheitern. Perspektiven für die Zukunft des Areals sind ungewiss. Es gibt keine aktuellen Anzeichen dafür, dass das Projekt neu aufgerollt wird oder die Formel 1 in naher Zukunft in Vietnam gastieren wird. Die Kalkulation mit Investitionen dieser Größenordnung in einem politisch instabilen Umfeld veranlasst viele Beteiligte dazu, vorsichtig zu bleiben.
Gleichzeitig weckt die ursprüngliche Vision vom Grand Prix nach wie vor Interesse und zeigt, dass der Motorsport in Südostasien ein großes Potenzial besitzt. Bis sich diese Gelegenheit vielleicht wieder ergibt, bleibt die Strecke in Hanoi jedoch ein stiller Zeuge einer anderen Zeit. Inmitten verfallener Boxengebäude und von überwucherten Straßen setzt die Natur ihre sanfte Eroberung fort und verleiht dem Ort eine einzigartige Atmosphäre. Sie verbindet die Geschichte von Highspeed und Glamour mit dem ewigen Wandel der Umwelt und verdeutlicht, wie selbst moderne Megaprojekte der Vergänglichkeit unterliegen. In der Summe erzählt das Beispiel von Vietnam viel über Trends und Herausforderungen, vor denen die Formel 1 global steht.
Expansion in neue Märkte ist ein strategisches Ziel, doch politische Stabilität, lokale Unterstützung und globale Ereignisse wie Pandemien können solche Pläne schnell durchkreuzen. Für Länder mit großem Potenzial, aber komplexer politischer Landschaft, ist dies eine wichtige Lektion. Die Natur hingegen macht keine Zugeständnisse, sondern bleibt unabhängig von menschlichen Ambitionen beständig. So wird aus der verlassenen Rennstrecke in Hanoi nicht nur eine Geschichte von versäumten Chancen und wirtschaftlichen Fehlschlägen, sondern auch eine eindrucksvolle Metapher für den Einfluss der Natur auf menschliche Projekte – und für den langsam zurückkehrenden grünen Ozean auf Asphaltstrecken, die nie befahren wurden.