Die Verbindung zwischen Physik und Mathematik ist seit jeher ein faszinierendes und herausforderndes Forschungsfeld. Schon der berühmte Mathematiker David Hilbert hatte um die Jahrhundertwende vom 19. zum 20. Jahrhundert die Vision, die Grundlagen der Physik durch eine rigorose, axiomatische Herangehensweise auf eine mathematische Basis zu stellen. Sein sechstes Problem verlangte geradezu nach einem Beweis, dass die verschiedenen physikalischen Modelle, die unterschiedliche Skalen der Realität beschreiben, miteinander zusammenhängen und konsistent sind.
Darüber hinaus stellt sich die Frage, wie die natürliche Zeitrichtung – das unumkehrbare Voranschreiten der Zeit – aus eigentlich zeitumkehrbaren physikalischen Gesetzen auf mikroskopischer Ebene entsteht. Nach 125 Jahren hatte diese Vision einen enormen Durchbruch erfahren, der nicht nur mathematische, sondern auch physikalische und philosophische Erkenntnisse mit sich bringt. Drei Mathematiker, Yu Deng, Zaher Hani und Xiao Ma, haben es geschafft, das fehlende Bindeglied zwischen der mikroskopischen Bewegung einzelner Gasmoleküle und der makroskopischen Beschreibung von Gasen zu schließen, eine Aufgabe, die andere zuvor nur für sehr kurze Zeiträume angehen konnten. Ihr Erfolg untermauert nicht nur Hilberts Forderung, sondern offenbart zugleich die Ursachen der Zeitrichtung im Universum.\n\nUm das Wunder dieser Errungenschaft zu verstehen, muss man zunächst die verschiedenen Modelle betrachten, mit denen Physiker Gase und Flüssigkeiten beschreiben.
Auf der mikroskopischen Ebene stehen einzelne Moleküle im Fokus, die sich wie Kugeln verhalten und den Gesetzen von Isaac Newton folgen. Auf der mesoskopischen Ebene nutzt die Physik die Boltzmann-Gleichung, eine statistische Beschreibung, die Vf die Verteilung der Moleküle in Raum und Geschwindigkeit angibt. Auf der makroskopischen Ebene schließlich beschreibt die Navier-Stokes-Gleichung das Verhalten des Gases als kontinuierliches Fluid mit Dichte und Geschwindigkeit an jedem Punkt. Physiker gehen davon aus, dass diese drei Ebenen eigentlich verschiedene Perspektiven auf ein und dieselbe physikalische Wirklichkeit darstellen. Doch mathematisch nachzuweisen, dass und unter welchen Bedingungen die mikroskopischen Modelle tatsächlich die mesoskopischen und diese wiederum die makroskopischen Modelle herleiten, war eine Herausforderung, die über ein Jahrhundert ungelöst blieb.
\n\nDie Schwierigkeit liegt vor allem in der Komplexität, die beim Übergang von der mikroskopischen zur mesoskopischen Ebene entsteht. Obwohl Boltzmann schon im 19. Jahrhundert eine statistische Gleichung entwickelte, beruht dies auf der Annahme, dass die Kollisionen zwischen Molekülen unabhängig voneinander sind – sogenannte seltene Mehrfachkollisionen sind äußerst unwahrscheinlich. Diese Annahme konnte zu Lebzeiten Boltzmanns aber nie mathematisch bewiesen werden. Spätere Bemühungen, wie die von Oscar Lanford in den 1970er Jahren, konnten zwar erste Schritte aufzeigen, aber nur für extrem kurze Zeiträume.
Das bedeutete, dass das vollständige mathematische Fundament der Physik, das Hilbert forderte, weiter unvollständig war.\n\nDeng, Hani und Ma änderten das Spiel, indem sie neue mathematische Techniken entwickelten und die Herangehensweise von der Welt der Wellen auf Teilchensysteme übertrugen. Dabei ist besonders bemerkenswert, dass keiner der drei Wissenschaftler ursprünglich spezialisiert auf Teilchensysteme war; ihre Expertise lag stattdessen in der Untersuchung komplexer Wellensysteme. Indem sie ihre Methoden klug adaptierten und verfeinerten, konnten sie eine vollständige und rigorose Herleitung der mesoskopischen Boltzmann-Gleichung aus den mikroskopischen Newtonschen Bewegungsgesetzen über längere Zeiträume erreichen. Dies bedeutete einen Paradigmenwechsel in der mathematischen Physik.
\n\nIhr Modell betrachtete zunächst ein Gas mit kugelförmigen Teilchen, die sich nicht in einem geschlossenen Behälter befanden, sondern im unendlichen Raum verteilten. Diese Annahme ermöglichte es, die endlichen Wechselwirkungen und Recollisionen von Partikeln zu kontrollieren und präzise Wahrscheinlichkeitsabschätzungen zu formulieren. Ein großer Teil ihres Erfolgs lag darin, komplizierte Kollisionsmuster systematisch zu analysieren und in einfachere, beherrschbare Einzelteile zu zerlegen, um deren Beiträge und Wahrscheinlichkeiten einzeln bewerten zu können.\n\nEin Kernthema ihrer Forschung ist dabei die Untersuchung der Zeitirreversibilität. Während die Newtonschen Gesetze theoretisch rückwärts wie vorwärts gültig sind – die Bewegung einzelner Moleküle kann in die Zukunft und Vergangenheit gleichermaßen berechnet werden –, zeigen mesoskopische und makroskopische Modelle eine klare Zeitrichtung.
Das tägliche Leben bestätigt dies: Wir altern, Wärme fließt von heißem zu kaltem, und ein Tropfen Tinte verteilt sich in Wasser, während er umgekehrt niemals auf natürliche Weise wieder zurückkehrt. Diese Diskrepanz zwischen mikroskopischer Zeitumkehrbarkeit und makroskopischer Zeitirreversibilität wurde historisch als das Loschmidt-Paradoxon bezeichnet und war ein zentrales Rätsel.\n\nDie mathematischen Beweise von Deng, Hani und Ma liefern eine Erklärung: Obwohl einzelne Teilchen sich zeitumkehrbar verhalten, haben die komplexen und vielfachen Kollisionen in großen Systemen die Eigenschaft, dass Zustände, in denen sich Teilchen rückwärts bewegen und beispielsweise ein Gas plötzlich kontrahiert, extrem unwahrscheinlich sind. Damit schließt sich der Kreis, und die irreversible Natur der Zeit auf makroskopischer Ebene wird als eine natürliche Folge der statistischen Eigenschaften zahlreicher Mikrozustände erklärt.\n\nDiese Erkenntnis hat weitreichende Bedeutung für mehrere Wissenschaftsbereiche.
In der Physik liefert sie eine logisch schlüssige Begründung für die von Alltagserfahrung und Messungen bestätigte Zeitrichtung. In der Mathematik zeigt sie, wie komplexe Systeme und deren Limits mathematisch kontrolliert und verstanden werden können. Auch in Bereichen wie Strömungsdynamik, Meteorologie und sogar Kosmologie können die Methoden und Ergebnisse ihrer Arbeit neue Impulse geben.\n\nDoch das ist erst der Anfang. Die vielseitigen Techniken könnten auch Anwendung finden, um andere physikalische Systeme genauer zu beschreiben, beispielsweise solche mit unterschiedlich geformten Teilchen oder komplizierteren Wechselwirkungen als einfache Stöße.
Zudem lohnt sich die Erforschung weiterer mathematischer Bedingungen, die solche Herleitungen gewährleisten. Die neugierige Gemeinschaft der Mathematiker und Physiker wird intensiv daran weiterarbeiten, das volle Potenzial dieses bahnbrechenden Beitrags auszuschöpfen und weitere offene Fragen zu beantworten.\n\nEin zentrales Ergebnis dieser neuen mathematischen Entwicklungen besteht darin, dass sie physikalische Modelle präzisieren und damit auch praktische Anwendungen verbessern können. So lassen sich anhand rigoroser, bewiesener Zusammenhänge effizientere Simulationsalgorithmen für Strömungsmodelle entwickeln, die im Ingenieurwesen, der Luft- und Raumfahrt oder der Umwelttechnik unverzichtbar sind. Das Verständnis dahinter zeigt, warum manche Gleichungen in bestimmten Szenarien besser funktionieren als andere und gibt Aufschluss über die genauen Grenzen ihrer Anwendbarkeit.
\n\nEinen weiteren bemerkenswerten Aspekt stellt der Austausch zwischen Mathematik und Physik dar. Wie Gregory Falkovich vom Weizmann Institute anmerkt, bewirken mathematische Resultate oft ein wachrüttelndes Umdenken bei Physikern – sie werden durch die Präzision und Strenge der Mathematik wach gehalten und zu neuen Einsichten angeregt. So schließt sich der große Kreis von Hilberts visionärer Forderung nach einer rigorosen mathematischen Fundierung der Physik und ihren heutigen erfolgreichen Errungenschaften.\n\nDiese Fortschritte zeigen eindrucksvoll, wie geduldige und kreative wissenschaftliche Arbeit über Jahrzehnte und Jahrhunderte zu tiefgreifenden Einsichten führen kann. Während Hilbert sein sechstes Problem im Jahr 1900 formulierte und die damalige Forschung die grundlegenden Werkzeuge für Physik und Mathematik suchte, gelingt es heute einer neuen Generation von Forschern, diesen Traum wahr werden zu lassen.
Durch rigorose mathematische Beweise werden dabei die Grundfesten der physikalischen Welt besser verstanden – und das Geheimnis der Zeit ein Stück weit gelüftet.