In einer Welt, in der schätzungsweise die Hälfte bis zu 90 Prozent der Sprachen innerhalb des nächsten Jahrhunderts aussterben könnten, ist die Bewahrung sprachlicher Vielfalt dringender denn je. Das Rosetta-Projekt, ins Leben gerufen und betrieben von der Long Now Foundation, setzt genau an diesem Punkt an. Es zielt darauf ab, eine umfassende, dauerhafte Sammlung von ungefähr 1.500 menschlichen Sprachen zu erstellen – eine beeindruckende Leistung, wenn man bedenkt, dass es weltweit etwa 7.000 Sprachen gibt.
Diese Sammlung dient nicht nur dazu, die Vielfalt der Sprachen zu dokumentieren, sie kann auch als Grundlage für linguistische Forschung, Bildung und potenzielle Wiederbelebung längst vergessener Sprachen dienen. Bei der Entwicklung des Projekts verfolgt das Rosetta-Projekt eine besondere Strategie, inspiriert vom historischen Rosetta-Stein – einem Schlüssel zur Entschlüsselung ägyptischer Hieroglyphen. Durch eine Open-Source-ähnliche Herangehensweise, die sich an der Arbeit am Oxford English Dictionary orientiert, ermöglicht das Projekt die Zusammenarbeit zahlreicher Sprachwissenschaftler, Experten und Muttersprachler weltweit. So entsteht ein lebendiges und ständig wachsendes Archiv, das auf mehreren Plattformen zugänglich ist. Ein wichtiger Teil des Projekts ist der sogenannte Rosetta Disk – eine drei Zoll große, mikroätzte Scheibe aus einer speziellen Nickellegierung mit einer geschätzten Haltbarkeit von etwa 2.
000 Jahren. Auf diesem winzigen Medium sind über 13.000 Seiten mit Sprachinformationen aus über 1.500 Sprachen verzeichnet. Die winzigen Zeichen sind nur unter starkem Mikroskop lesbar, was den Rosetta Disk zu einem ausgesprochen robusten und langfristig nutzbaren Archiv macht.
Diese Disk wurde auch auf der berühmten europäischen Rosetta-Sonde mit ins All genommen, welche den Kometen 67P/Churyumov–Gerasimenko erforschte. Als symbolische Geste bringt sie so menschliche sprachliche Vielfalt sogar ins All. Neben der physischen Disk gibt es auch eine umfangreiche digitale Bibliothek, welche online und auf Datenträgern zur Verfügung steht, sowie ein monumentales Referenzwerk in Buchform, das all jene Informationen zusätzlich zugänglich macht. Die Kombination dieser Formate ermöglicht einer breiten Öffentlichkeit den Zugang, wobei digitale Medien für schnelle Verfügbarkeit genutzt werden, während die langlebigen physischen Medien für die Archivierung und Langzeitbewahrung stehen. Die zunehmende Bedrohung von Sprachen weltweit wird durch immer größere Dominanz einiger weniger Nationalsprachen, die oft als offizielle Schul- und Mediensprache verwendet werden, verstärkt.
Viele kleinere Sprachgemeinschaften sehen sich gezwungen, ihre Sprache aufzugeben, da Bildung, Verwaltung und öffentliche Kommunikation sich auf dominante Sprachen konzentrieren. In vielen Regionen, wie beispielsweise auf Papua-Neuguinea, verdrängen Pidgin- oder Kreolsprachen traditionelle indigene Sprachen zunehmend. Ohne eine gute Dokumentation sowie bewusste Erhaltungsmaßnahmen drohen so viele Sprachen unwiederbringlich verloren zu gehen. Das Rosetta-Projekt reagiert auf diese Herausforderung mit der Bereitschaft, ein globales Bewusstsein für die Bedeutung kultureller und sprachlicher Vielfalt zu schaffen. Weit mehr als nur ein Archiv vereint die Initiative Forscher und Gemeinschaften weltweit in ihrem Engagement, die fragile Sprache des Menschen zu bewahren.
Die offene Plattform bietet Raum für Beiträge von Muttersprachlern und Wissenschaftlern und zeichnet sich durch den kollaborativen Charakter aus, der zu einem umfassenden und genau dokumentierten Archiv führt. Ein weiterer bemerkenswerter Meilenstein des Projekts ist die Rosetta Wearable Disk, eine miniaturisierte Version des Originals, die als Schmuckstück getragen werden kann. Sie verbindet Innovation und Symbolik gleichermaßen, indem sie über 1.000 Sprachen auf einem etwa zwei Zentimeter großen Nickelplättchen enthält. Diese kreative Herangehensweise macht das Bewusstsein für gefährdete Sprachschätze auch für breite Bevölkerungsschichten zugänglich und alltagsnah erfahrbar.
Die Rosetta Wearable Disk enthält außerdem Anleitungen in acht bedeutenden Sprachen der Welt, um Nutzer bestmöglich beim Erkunden und Lesen der gespeicherten Inhalte zu unterstützen. Neben der Sammlung und Bewahrung legt das Rosetta-Projekt auch großen Wert auf die erleichterte Forschung und Bildung. Die standardisierte parallele Textstruktur für alle dokumentierten Sprachen bietet Linguisten eine einzigartige und vergleichbare Grundlage, die linguistische Unterschiede und Parallelen aufzeigt und so den Wissenschaftsfeldern der historischen Sprachforschung, Sprachtypologie und Sprachrevitalisierung neue Impulse gibt. Die Verfügbarkeit der Daten im Open-Access-Format kommt dabei der weltweiten Gemeinschaft zugute. Das Engagement des Rosetta-Projekts veranschaulicht auch, wie technologische Innovationen und kulturelles Bewusstsein Hand in Hand gehen können, um gefährdetes Wissen zu retten.
Die Mikroätzungstechnologie, die eine derart dichte und langlebige Kodierung menschlicher Sprache ermöglicht, sowie digitale Archive, die auf höchst zugängliche Weise Wissen bereitstellen, schaffen sowohl eine Brücke zur Vergangenheit als auch eine Brücke in die Zukunft. Darüber hinaus erlaubt die Initiative, dass Forschungseinrichtungen wie Stanford, Yale, Berkeley, aber auch nationale Einrichtungen wie die Library of Congress und das Summer Institute of Linguistics ihre Schätze einbringen und damit die Sammlung qualitativ bereichern und verbreitern. Diese Zusammenarbeit von akademischen Institutionen und Laien zeigt den ganzheitlichen Ansatz des Rosetta-Projekts. In summe trägt das Rosetta-Projekt nicht nur zur Rettung der schwindenden Sprachlandschaft bei, sondern macht darüber hinaus die enorme Vielfalt der menschlichen Sprache sichtbar – von der weltweit gesprochenen Mehrsprachigkeit bis hin zu seltenen, sehr lokal verbreiteten Dialekten und Sprachformen. Es ist ein Zeitzeugenarchiv, Symbol und Mahnung zugleich für die kulturelle Bedeutung von Sprache, die Identität von Gemeinschaften und die multilingualen Wurzeln der Menschheit.
Die nächste Herausforderung liegt darin, das Projekt fortlaufend zu pflegen, es mit weiteren Sprachen zu erweitern und dessen Bekanntheit zu steigern. Je mehr Menschen Zugang erhalten und sich mit ihrer eigenen Sprachenvielfalt auseinandersetzen, desto nachhaltiger ist der Erhalt dieses kulturellen Erbes gesichert. Sprachliche Diversität ist nicht nur linguistische Wissenschaft, sondern ein Fundament für kulturelle Identität und menschliche Vielfalt, die es zu bewahren gilt – mit dem Rosetta-Projekt als einem der herausragendsten Initiativen unserer Zeit.