Seit einiger Zeit kursierten in New Brunswick Berichte über eine vermeintliche mysteriöse neurologische Erkrankung, die bei zahlreichen Patienten eine Reihe schwerwiegender Symptome verursachen soll. Diese Gerüchte hatten große Besorgnis ausgelöst und forderten intensive Untersuchungen von Medizinern, Wissenschaftlern und Gesundheitsbehörden. Nun liefert eine neue, im renommierten Journal of the American Medical Association (JAMA) veröffentlichte Studie Klarheit: Eine tatsächliche unbekannte neurologische Krankheit existiert nicht. Stattdessen konnten die betroffenen Patienten mit klassischen neurologischen Diagnosen eindeutig eingeordnet werden. Die Herkunft der Untersuchungen reicht Jahre zurück, als der Neurologe Dr.
Alier Marrero aus Moncton erstmals auf eine auffällige Häufung ungeklärter neurologischer Symptome aufmerksam machte. Insgesamt wurden 222 Patienten dokumentiert, die von ihm mit einem „neurologischen Syndrom unbekannter Ursache“ diagnostiziert wurden. Die Beschwerden reichten von Muskelkrämpfen, Gedächtnisverlust, Halluzinationen bis hin zu motorischen und kognitiven Einschränkungen. Viele Betroffene kämpften mit der Unsicherheit über die Ursache ihrer Leiden, was bei Angehörigen und der Öffentlichkeit Spekulationen über eine bislang unbekannte und möglicherweise umweltbedingte Erkrankung anfachte. Die nun veröffentlichte Studie nahm sich 25 dieser Fälle vor, um sie gründlich zu überprüfen und eine unabhängige, ausführliche Neubewertung vorzunehmen.
Diese Auswahl umfasste sowohl lebende Patienten als auch Verstorbene, auf deren Autopsieberichte zugegriffen werden konnte. Neurologen renommierter kanadischer Institutionen, darunter die Universität Toronto und das Horizon Health Network in New Brunswick, führten dafür unter anderem detaillierte klinische Untersuchungen, Laboranalysen sowie Bildgebungsverfahren durch. In beeindruckender Klarheit konnte die Studie aufzeigen, dass alle Fälle entweder durch etablierte neurodegenerative Erkrankungen wie Alzheimer oder Parkinson erklärt werden können oder auf bereits bekannte neurologische Diagnosen wie funktionelle neurologische Störungen, Folgen von Hirnverletzungen oder auch vorgeschrittenen Krebs zurückzuführen sind. Die vermeintlichen Symptome eines „mysteriösen Syndroms“ entsprachen einer Kombination aus diesen weit verbreiteten Krankheitsbildern. Ein wichtiger Fokus lag dabei auf der Methodik des ursprünglichen Diagnoseprozesses.
Die neue Untersuchung offenbarte bei der Mehrzahl der Fälle signifikante Diskrepanzen zwischen der Erstdiagnose von Dr. Marrero und den Ergebnissen der unabhängigen Nachuntersuchung. Bei vielen Patienten zeigte sich beispielsweise, dass die Symptome zum Teil viel früher einsetzten oder dass bestimmte berichtete Symptome wie Halluzinationen bei genauer Überprüfung nicht bestätigt werden konnten. Auch die Deutung von EEG-Untersuchungen wurde kritisch betrachtet; Fehlinterpretationen durch eine fehlende Standardisierung und ungenügende Ausbildung konnten dabei eine Rolle gespielt haben. Ein zentraler Aspekt der Studie war außerdem die Untersuchung möglicher Umweltfaktoren.
Spekulationen über den Einfluss von Umweltgiften wie Herbiziden (beispielsweise Glyphosat) oder Schwermetallen stellten sich ebenfalls als unbegründet heraus. Die neurologischen Erscheinungsbilder hätten keine einheitliche Ursache, die sich durch einen einzigen Umweltfaktor erklären ließe. Zudem fanden sich keine epidemiologischen Beweise dafür, dass die Bewohner in bestimmten Regionen unter ungewöhnlicher Belastung litten. Im Zuge dieser Ergebnisse betonten die Autoren der Studie, wie bedeutsam Zweitmeinungen bei komplexen neurologischen Fällen sind. Viele Patienten verweigerten jedoch eine solche unabhängige Überprüfung und blieben beim behandelnden Neurologen, der die ursprüngliche Diagnose stellte.
Aus Sicht der Forscher wäre eine objektive Neubewertung insbesondere wegen der Komplexität neurologischer Erkrankungen sehr empfehlenswert, um Fehldiagnosen zu vermeiden und den Patienten angemessene Behandlungsmöglichkeiten bieten zu können. Die Veröffentlichung der Studie stieß allerdings auf gemischte Reaktionen. Dr. Marrero selbst äußerte scharfe Kritik an der Studie und stellte die Methoden sowie deren Aussagekraft infrage. Er ist überzeugt, dass die Untersuchung nicht das Gesamtbild einfängt und deutlich mehr Patienten mit ungewöhnlichen Umweltbelastungen zu kämpfen haben, die bisher unzureichend erforscht sind.
Auch mehrere Patienten und Angehörige halten an der Annahme fest, dass es sich um eine neue Krankheit handelt, da sie über seltene Kombinationen von Symptomen und Biomarkern berichten, die in dieser Häufigkeit ungewöhnlich seien. Die Debatte wird somit auch künftig Thema in den kanadischen Gesundheitskreisen bleiben. Die Regierung von New Brunswick führt weiterhin eine breit angelegte Untersuchung durch, deren Abschlussbericht für den Sommer erwartet wird. Dabei sollen neben weiteren medizinischen Tests auch Umweltmessungen in Wasser, Luft, Boden und Nahrung erfolgen, um potenzielle Risikofaktoren zu identifizieren und gegebenenfalls Gegenmaßnahmen einzuleiten. Neben der medizinischen Forschung rückt auch die soziale Dimension verstärkt in den Fokus.
Die Verunsicherung der Betroffenen sowie ihrer Familien ist enorm. Die Wissenschaftler empfehlen daher, psychologische Unterstützung und umfassende Aufklärung als integrale Bestandteile der Versorgung zu etablieren. Fehlgeleitete Angst, verursacht durch Fehlinformationen und längst widerlegte Theorien, kann den Gesundheitszustand zusätzlich belasten und das Vertrauen in das Gesundheitssystem nachhaltig schwächen. Dies gilt insbesondere vor dem Hintergrund der generellen Vertrauenskrise, die viele Gesellschaften in den Jahren nach der COVID-19-Pandemie erlebt haben. Auch die Medien spielen in diesem Zusammenhang eine wichtige Rolle.
Fundierte, gut recherchierte und transparente Berichterstattung kann dazu beitragen, Gerüchte zu entkräften und den Fokus auf evidenzbasierte Erkenntnisse zu lenken. Ebenso benötigen Ärzte und Fachleute eine stärkere Plattform, um Klarheit zu schaffen, Patienten seriös zu beraten und sie auf dem Weg zu einer akkuraten Diagnose und adäquaten Behandlung zu begleiten. Die wissenschaftliche Aufarbeitung der vermuteten neurologischen Erkrankung in New Brunswick zeigt exemplarisch, wie komplex medizinische Diagnosen sein können, insbesondere wenn Symptome unspezifisch und vielfältig sind. Sie unterstreicht zudem, wie wichtig eine interdisziplinäre Herangehensweise und die Bereitschaft zur Überprüfung von Erstdiagnosen sind. Nur durch solch gründliche Nachforschungen können Fehldiagnosen minimiert und letztlich bessere gesundheitliche Ergebnisse für Patienten erzielt werden.