Die Wissenschaft der Komplexität steht im 21. Jahrhundert im Mittelpunkt vieler wissenschaftlicher und gesellschaftlicher Diskussionen. Komplexität beschreibt Systeme, die aus zahlreichen Komponenten oder Teilsystemen bestehen, die miteinander interagieren und dadurch überraschende emergente Phänomene hervorbringen. Diese Phänomene sind nicht einfach durch das Studium der Einzelteile erklärbar, sondern entstehen erst durch das Zusammenspiel der verschiedenen Ebenen und Elemente. Dabei greifen oft unterschiedliche Naturen, Mechanismen und Skalen ineinander, was die Komplexität und Herausforderung ihrer Erforschung erheblich steigert.
Die Untersuchung dieser Systeme erfordert daher eine interdisziplinäre Herangehensweise, die traditionelle wissenschaftliche Grenzen überwindet. Der Begriff „Komplexität“ ist dabei nicht als einzelwissenschaftliche Disziplin, sondern vielmehr als eine Gemeinschaft und Perspektive zu verstehen, die Offenheit, Neugier und die Verbindung unterschiedlicher Wissensgebiete fordert. Die Wurzeln der Komplexitätswissenschaft reichen weit zurück und können nicht auf ein einzelnes Ereignis oder eine Person zurückgeführt werden. Bereits in der Philosophie, etwa im Werk des französischen Philosophen René Descartes mit seinem Werk „Die Leidenschaften der Seele“ aus dem Jahr 1649, wurde das Zusammenspiel vielfältiger Teile in einem System bedacht und beschrieben. Diese frühen Überlegungen betrachteten menschliches Leben und die Natur als ein Netzwerk verschiedener miteinander verknüpfter Elemente, deren lokale Interaktionen globale Konsequenzen haben können.
Während diese Gedanken noch nicht formalisiert waren, bildeten sie eine wertvolle Grundlage für die spätere Entwicklung komplexer Systemtheorien, die sich bewusst gegen rein reduktionistische Erklärungsmodelle wandten. Im 20. Jahrhundert wurden diese Ideen systematisch weiterentwickelt. Der politische Wissenschaftler und spätere Forscher im Bereich künstlicher Intelligenz Herbert A. Simon legte 1962 mit seiner Arbeit "The Architecture of Complexity" einen wichtigen Grundstein, indem er die Struktur und Hierarchie komplexer Systeme erklärte.
Ihm folgte der Physiker Philip W. Anderson, der 1972 in seinem berühmten Essay "More Is Different" die Grenzen reduktionistischer Ansätze aufzeigte und argumentierte, dass grundlegende Naturgesetze nicht automatisch erklären können, wie komplexe Phänomene auf höheren Ebenen entstehen. Sein Aufruf zu multiplen Perspektiven war ein Meilenstein im Denken über komplexe Systeme und ihre Hierarchien. Auch in der Philosophie prägte Edgar Morin mit seiner Kritik an reduktionistischen und systemtheoretischen Ansätzen das Verständnis von Komplexität entscheidend mit. Seine Werke fordern eine ganzheitliche Denkweise, die nicht abstrakt und entkoppelt von sozialen und historischen Kontexten ist, sondern stattdessen Intuition, Gefühl und Verbindung in den Vordergrund stellt.
Diese Denkweise hebt hervor, wie wichtig es ist, Komplexität als vielschichtiges Phänomen zu begreifen, das sich nur in einem interdisziplinären Rahmen verstehen lässt. Der Wunsch, die Komplexität lebender Systeme zu verstehen, trieb viele wissenschaftliche Disziplinen an. Erwin Schrödinger, bekannt für seine Arbeit in der Quantenmechanik, legte mit seinem Buch "What Is Life?" die Grundlage für die Betrachtung biologischer Systeme aus physikalischer Sicht, und deutete an, dass zukünftige Erkenntnisse möglicherweise neue naturgesetzliche Prinzipien benötigen. Parallel dazu entwickelten John von Neumann und Stanisław Ulam theoretische Konzepte selbstreplizierender Automaten, die als Vorläufer moderner Computer und künstlicher Lebensformen gesehen werden können. Diese Ansätze zielten darauf ab, biologische Komplexität durch theoretische Maschinen nachzubilden, die sich selbst reproduzieren und weiterentwickeln können.
In der Biologie und Physik entstanden bedeutende Modelle, die Selbstorganisation als Kernphänomen erklärten. Per Bak führte das Prinzip der selbstorganisierten Kritikalität am Beispiel eines Sandhaufens ein, während Stuart Kauffman durch Modelle genetischer Regulatornetzwerke die Möglichkeiten der Emergenz in biologischen Systemen untersuchte. Diese verschiedenen, aber einander ergänzenden Wege veranschaulichen, wie Komplexität von mehreren Disziplinen aus betrachtet wird und welch tiefen gegenseitigen Einfluss diese Dialoge zwischen Fachgebieten haben. Die Wissenschaft der Komplexität zeichnet sich heute durch eine lebendige Community aus, die über zahlreiche Gebiete hinweg vernetzt ist. Ursprünglich stammte die Gemeinschaft aus Philosophie, Physik und Ökonomie und konzentrierte sich auf abstrakte Modelle und gedankliche Experimente.
Mit dem Aufkommen von Big Data und der Rechenleistung wuchs der Einfluss der Informatik und Statistik, die Werkzeuge für Simulationen und Datenanalysen bereitstellen konnten. Auch Naturwissenschaftler, wie Ökologen und Biologen, sowie Sozialwissenschaftler beteiligten sich zunehmend, da die komplexen Systeme, die sie seit langem studierten – wie beispielsweise Nahrungsnetze, soziale Netzwerke oder politische Systeme – besonders von der Komplexitätsforschung profitieren. Neurowissenschaftler und Biomediziner ergänzten das Feld mit Modellen unseres Gehirns und Immunsystems, was wiederum zur Erforschung des menschlichen Selbstverständnisses beiträgt. Wichtig ist, dass das zentrale Paradigma „mehr ist anders“ auf breite Resonanz stößt. Wissenschaftler verschiedenster Disziplinen erkennen, dass die Untersuchung isolierter Einheiten oft nicht ausreicht; stattdessen braucht es das Studium von offenen, interagierenden Populationen und Systemen mit vielfältigen Rückkopplungsmechanismen.
Das Wachstum der Komplexitätswissenschaft ist somit auch ein Spiegelbild der Entstehung neuer wissenschaftlicher Disziplinen und Methoden, die mit Populationen, Netzwerken und dynamischen Systemen arbeiten. Ein weiterer Impuls kam durch die Auszeichnung von Giorgio Parisi mit dem Nobelpreis, der zeigte, wie wichtig Neugier und die Offenheit für unerwartete Erkenntnisse auch in theoretischen Wissenschaften sind. Trotz des gemeinsamen Interesses gibt es keinen festen methodischen oder thematischen Kern, der Komplexität eindeutig definiert. Stattdessen zeichnet die Community die Haltung aus, über Disziplingrenzen hinauszudenken, Neues zu wagen und verschiedene Perspektiven einzubeziehen. Den Herausforderungen einer solchen interdisziplinären Forschung begegnet der traditionelle Publikationsapparat nur begrenzt, da wissenschaftliche Journale meist klar disziplinspezifisch ausgerichtet sind.
Studien aus der Komplexitätsforschung müssen oft den Kompromiss eingehen, ihre Forschung für eine spezifische Fachgemeinschaft anzupassen, wodurch wesentliche Merkmale verloren gehen können. Alternativ veröffentlichen sie in multidisziplinären Magazinen, die aber selten auf Komplexitätsforschung spezialisiert sind. Hier setzt die Gründung spezieller Plattformen und Journale an, die bewusst Brücken bauen und Dialoge fördern zwischen Disziplinen. Dabei geht es nicht nur um einfache fachliche Integration, sondern auch um neue Sichtweisen und kreative Forschungsansätze. So ist es von zentraler Bedeutung, dass wissenschaftliche Veröffentlichungen verständlich bleiben und eine breite Leserschaft ansprechen, um den Austausch und gegenseitiges Lernen zu fördern.
Sonst droht Komplexitätsforschung in einem eigenen Jargon zu versinken und sich von anderen Wissenschaftszweigen abzuschotten. Die Herausforderung besteht darin, sowohl spezifische Probleme mit neuen Perspektiven zu lösen als auch bewährte Konzepte kreativ zu adaptieren. Der berühmte Physiker und Komplexitätswissenschaftler Murray Gell-Mann fasste es einmal so zusammen: Wissenschaft lebt von Neugier und dem Spiel mit Erkenntnissen – eine Sichtweise, die in der Komplexitätsforschung weiterhin gelebt wird. Komplexitätswissenschaft trifft auf vielfältige verwandte Forschungsfelder wie Systemtheorie, Kybernetik, Ökologie oder Politikwissenschaft. Die Offenheit und Vielschichtigkeit im Begriff „Komplexität“ ist Teil ihres Erfolgs.
Dennoch besteht ein dringender Bedarf an holistischen Forschungsansätzen, die Theorie und Praxis ebenso umfassen wie deren philosophische und ethische Dimensionen. Zu den Anwendungsgebieten gehören unter anderem Netzwerkforschung, Künstliches Leben, Data Science, Systembiologie, Sozialwissenschaften und Wirtschaft. Die großen Herausforderungen unserer Zeit, darunter Pandemien, Klimawandel, soziale Ungerechtigkeit, die Verbreitung von Fehlinformationen und technische Innovationen, sind von Natur aus komplex und grenzen Disziplinen bewusst überschreitend. Die Lösung dieser Probleme verlangt genau das Denken und Forschen, das Komplexitätswissenschaft fördert: vernetztes, offenes und interdisziplinäres Arbeiten. Dabei gilt es, nicht nur wissenschaftliche Barrieren zu überwinden, sondern auch die Dynamiken sozialer und technischer Systeme zu verstehen und zu berücksichtigen.
Komplexitätsforschung ist somit mehr als ein wissenschaftliches Fachgebiet. Sie ist ein lebendiger, sich ständig weiterentwickelnder Prozess, der Forschung über Grenzen hinweg verbindet und zukünftige Herausforderungen mit kreativen Ansätzen begegnet. Wer sich auf diesen Pfad begibt, wird Teil einer Gemeinschaft, die nach neuen Einsichten sucht, jene Vernetzungen ergründet, die unsere Welt zusammenhalten, und Antworten liefert, wo einzelne Perspektiven versagen.