Die Frage, warum Frauen trotz ähnlicher Qualifikationen und Leistungen seltener in Führungspositionen aufsteigen als ihre männlichen Kollegen, beschäftigt Unternehmen und Gesellschaften weltweit. Gerade in großen Technologieunternehmen wie Microsoft zeigte sich, dass bestimmte sogenannte „weiche Faktoren“ entscheidend sind, wenn es darum geht, wer die nächste Stufe auf der Karriereleiter erklimmt. Eine ehemalige Microsoft-Managerin, die für die professionelle Entwicklung von 90.000 Mitarbeitern verantwortlich war, teilte aufschlussreiche Einblicke darüber, welches Persönlichkeitsmerkmal Frauen bei Beförderungen oft benachteiligt. Die Managerin Sabina Nawaz erläuterte, dass das typische Karrierehindernis für Frauen weniger fachlicher Natur sei als vielmehr mit persönlichen Eigenschaften verbunden ist.
Sie identifizierte insbesondere das Merkmal der „Fürsorglichkeit“ oder „Caretaking“ als einen wesentlichen Faktor, der Frauen häufig daran hindert, in höhere Führungspositionen aufzusteigen. Obwohl Fürsorglichkeit grundsätzlich eine positive Eigenschaft mit hoher emotionaler Intelligenz darstellt, zeigt sich, dass ein Zuviel an dieser Charaktereigenschaft im beruflichen Kontext problematisch sein kann. Im Alltag eines Managers bedeutet zu viel Fürsorge oft, dass Frauen dazu neigen, ständig die Aufgaben ihrer Mitarbeiter zu übernehmen oder „Feuer zu löschen“, anstatt ihre Teams zum eigenständigen Problemlösen zu befähigen. Dies hat zur Folge, dass die Mitarbeiter nicht die notwendige Erfahrung oder Vertrauensbildung durch eigene Erfolge sammeln können. Gleichzeitig empfinden sich viele fürsorgliche Managerinnen selbst als ausgenutzt und überfordert, da sie spüren, wie sie durch ihr permanentes Eingreifen letztlich den Blick fürs große Ganze verlieren.
Das „Fürsorge-Merkmal“ zeigt sich dabei bei Männern und Frauen zwar gleichermaßen, doch es äußert sich unterschiedlich. Männer neigen eher dazu, als Helden aufzutreten und selbst dann zu handeln, wenn das Team eigentlich selbständig hätte agieren können. Frauen hingegen berücksichtigen oft stärker die Gefühle und Bedürfnisse der Mitarbeitenden und vermeiden es, Druck auszuüben, aus Angst, jemanden zu überfordern oder zu verletzen. Diese emotionale Feinfühligkeit ist zweifellos ein Vorteil, wird im Kontext des Leaderships jedoch manchmal als zurückhaltend oder wenig durchsetzungsstark interpretiert. Ein weiterer interessanter Punkt, den Sabina Nawaz hervorhob, ist die sogenannte „kaputte Sprosse“ oder das „broken rung“-Phänomen auf der Karriereleiter.
Es beschreibt den Moment, wenn eine Mitarbeiterin ihre erste Beförderung zur Führungskraft erhält und dabei oft das Risiko eingeht, genau die Eigenschaften, die sie beim Erreichen dieser Position ausgezeichnet haben, plötzlich als Nachteil wahrgenommen zu werden. Detailorientiertheit, Präzision und Verantwortungsbewusstsein – Fähigkeiten, die Mitarbeiterinnen als Individual Contributor auszeichnen – können von Führungsetagen als Mangel an strategischem Denken interpretiert werden. Diese Diskrepanz führt dazu, dass Frauen, obwohl sie durchaus strategisch denken, unbewusst durch ihr fürsorgliches Verhalten in der Wahrnehmung der Führungskräfte Nachteile erleiden. Dabei ist die Wirkung einer fürsorglichen Haltung bei Frauen im Management ambivalent: Einerseits fördert sie ein positives Betriebsklima und Teamzusammenhalt; andererseits erschwert sie die nötige Durchsetzungskraft und den Fokus auf langfristige strategische Ziele. Nawaz berichtet von vielen Frauen, die genau diesen Widerspruch in ihrer Entwicklung erleben.
Sie erhalten von ihren Vorgesetzten oder Mentoren die Rückmeldung, sie sollten sich „strategischer“ verhalten und zugleich weniger „fürsorglich“ sein. Das führt zu einer inneren Zerrissenheit, weil diese Frauen selbst erkennen, dass ihr strategisches Denken nicht das Problem ist, sondern die Art und Weise, wie sie ihre Fürsorglichkeit ausleben. Das Thema Fürsorge und Beförderungshemmnis weist auch darauf hin, wie Geschlechterrollen und gesellschaftliche Erwartungen in Arbeitsumgebungen wirken. Frauen wird traditionell eine stärkere emotionale Verantwortung zugeschrieben, während Männer ermutigt werden, klare Entscheidungen zu treffen und Problemkonflikte schnell zu beheben. Diese Rollenerwartungen sind tief verwurzelt und beeinflussen unbewusst die Beurteilung von Leistung und Führungskompetenz.
Im Kontext von Microsoft, einem der größten Technologieunternehmen weltweit, hatte Sabina Nawaz die Gelegenheit, die Dynamiken eines solchen großen Konzerns genau zu beobachten. Mit der Verantwortung über die berufliche Entwicklung von 90.000 Mitarbeitern, sah sie aus erster Hand, wie sich Persönlichkeitsmerkmale und Führungsstile auf Karrierewege auswirken. Ihre Erkenntnisse werfen ein Licht darauf, wie Unternehmen noch nicht vollständig die Diversität in Führungsqualitäten erkannt oder gewürdigt haben. Der Ausweg aus diesem Dilemma liegt für Nawaz unter anderem in einem neuen Verständnis von Führung.
Anstatt Fürsorglichkeit als Schwäche zu sehen, sollten Unternehmen und Führungskräfte lernen, wie diese wertvolle Eigenschaft produktiv kanalisiert werden kann, ohne dass sie einem strategischen Vorgehen im Wege steht. Dazu gehört, den Frauen Werkzeuge und Trainings an die Hand zu geben, um gesunde Grenzen zu setzen, Prioritäten zu hinterfragen und ihren Teams mehr Eigenverantwortung zuzutrauen. Zudem sollten Führungskulturen in Firmen diverser gestaltet werden, sodass verschiedene Arten von Führung anerkannt und gefördert werden. Wenn Fürsorglichkeit als Teil einer wertvollen Führungspersönlichkeit verstanden wird, kann sie nicht nur die Karrierechancen von Frauen verbessern, sondern auch zu besser funktionierenden und sozial bewussten Organisationen beitragen. Sabina Nawaz‘ neue Arbeit und ihr Buch „You’re the Boss“ nehmen genau diese Herausforderungen in den Blick – mit dem Ziel, Frauen im Management zu stärken und Unternehmen Impulse zu geben, wie sie Fördersysteme anpassen können, um weiblichen Führungskräften nicht nur den Einstieg, sondern auch das nachhaltige Bestehen zu ermöglichen.