Inmitten der weiten Landschaften der Provinz Buenos Aires, etwa 30 Kilometer von der Hauptstadt Argentiniens entfernt, erhebt sich eine alte Kolonialanlage, umgeben von hohen Mauern, die den Blick von außen abschirmen. La Chacra, wie die ehemalige Landhausanlage genannt wird, beherbergte jahrelang eine Schule, die junge Mädchen aus ärmlichen Verhältnissen für die Welt der Hausarbeit vorbereitete. Diese Institution ist Teil der katholischen Organisation Opus Dei, eines international agierenden Netzwerks mit stark konservativen Werten und einer strengen Hierarchie. Ihr Ziel ist es, christliche Ideale durch die Heiligung des Alltagslebens zu verbreiten – doch wie sich zeigt, kann dieses Konzept für viele der jungen Frauen, die dort eingewiesen wurden, zur persönlichen Hölle werden. Die Gründung der Handmaidenschule liegt in den frühen 1970er Jahren, einer Zeit großer Umwälzungen in Argentinien.
Die damalige Militärdiktatur und die starke Verflechtung mit konservativen katholischen Kreisen schufen den Nährboden für Organisationen wie Opus Dei, die ihre gesellschaftliche und soziale Vision durch institutionelle Strukturen zu etablieren versuchten. Mit der Öffnung des Instituto de Capacitación Integral en Estudios Domésticos (ICIED) im Jahr 1973 setzte die Gruppe eine Maßnahme um, die stets als ehrenwert galt: der Wiederherstellung der Würde häuslicher Arbeit. Diese Schule richtete sich gezielt an Mädchen, oft sehr jung, die aus ländlichen oder benachteiligten städtischen Gegenden stammten und keine Aussicht auf höhere Bildung hatten. Man versprach ihnen eine Ausbildung, durch die sie sich aus der Armut befreien und zu beruflichen Dienstmädchen ausgebildet werden würden – eine praktische und schnelle Alternative zur rein schulischen Laufbahn. Diese Mädchen wurden als „Handmaids“ bezeichnet, was in ihrer Rolle als Dienerinnen und Betreuerinnen wohl treffend ist, aber im Sprachgebrauch eine starke Abwertung darstellt und besonders in Deutschland eine besondere Sensibilität auslöst.
Der Alltag in der Handmaidenschule war streng reglementiert und geprägt von Disziplin, religiöser Unterwerfung und harten Arbeitsbedingungen. Morgens begann der Tag mit dem Weckruf, gefolgt von einer kurzen Andacht oder Messe, um den Schwerpunkt auf die „Heiligung durch Arbeit“ zu betonen. Die jungen Mädchen verbrachten die meiste Zeit des Tages mit praktischen Tätigkeiten: Geschirrspülen, Putzen, Kochen, Waschen, Bügeln und das Servieren bei anspruchsvollen Opus-Dei-Anlässen. Sie lernten, gläsern zu putzen, Besteck akkurat zu legen, und die strikten Protokolle einzuhalten, die auf Reinheit, Stille und unauffälligem Auftreten basierten. Der kleinste Fehler, wie das Fallenlassen eines Glases, wurde sanktioniert – oft durch zusätzliches Arbeiten oder psychischen Druck, für die Organisation zu büßen.
Die Uniformen – oft spießig und eng – waren ein weiteres Symbol für die Unterordnung. Das Haar streng zu einem Zopf gebunden, die Bewegungen kontrolliert und emotionslos, die Augen meist gesenkt. Individuelle Bedürfnisse waren nebensächlich, die totale Hingabe an die Aufgabe und den Dienst stand im Vordergrund. Freundschaften und persönliche Freiheiten wurden eingeschränkt, soziale Kontakte überwacht, auch der Kontakt zu den eigenen Familien war nur eingeschränkt möglich und die Kommunikation streng zensiert. Hinter dieser scheinbar fürsorglichen Fassade verbarg sich jedoch ein System, das Elemente von psychischer und sozialer Kontrolle aufwies, die an moderne Formen von Ausbeutung grenzten.
Mehrere der ehemaligen Schülerinnen sowie Mitarbeiterinnen berichteten von psychischer Gewalt, Demütigungen und einem rigiden Überwachungssystem. Die komplette Lebensgestaltung war genau vorgegeben und an die strengen Dogmen des Opus-Dei-Gründers Josemaría Escrivá de Balaguer und seiner Lehre der Heiligung durch Arbeit und Unterwerfung angepasst. Der soziale Hintergrund der Organe und Führungspersonen der Handmaidenschule trug zu einem oligarchischen Machtgefüge bei. Angehörige wohlhabender Familien, oft gut vernetzt in Wirtschaft, Politik und Kirche, unterstützten die Institution finanziell und ideell. Ihre Aufgabe war es, die konservative katholische Moral hochzuhalten und gleichzeitig eine leistungsfähige Infrastruktur zur Unterstützung des Opus-Dei-Schülersystems zu gewährleisten.
Bereits kurz nachdem die Organisation in Argentinien Fuß fasste, wurde sie in Kinder- und Jugendarbeit aktiv, um die Generation von morgen nach ihren Prinzipien zu formen. Die Handmaidenschule wurde oft als „apostolisches Werk“ bezeichnet – eine Mission, die domestic-service als noble Arbeit neu zu definieren. Die Ausbildung sollte nicht nur handwerkliche Fähigkeiten vermitteln, sondern auch die religiöse Hingabe und den Gehorsam fördern. Das Leben der jungen Frauen war geprägt von einer strikten Zeitplanung, vielen Gebeten, sowie zahlreichen religiösen Aufgaben, die zur Erfüllung ihrer Berufung als Hilfskräfte in der Organisation gehörten. Unmittelbar nach ihrem Schulabschluss mussten sie oft lange Praktika absolvieren, in denen sie die gelernten Fähigkeiten unter Beweis stellten und weiter verinnerlichten.
Für viele bedeutete das jahrelange Arbeit, weit entfernt von der Möglichkeit eines selbstbestimmten Lebens. In den letzten Jahren lichteten sich die Mauern des Schweigens. Ehemalige Schülerinnen und Mitarbeiterinnen traten hervor und schilderten die dunklen Seiten der Institution. Die Geschichten von psychischem Missbrauch, Nichtbeachtung gesetzlicher Altersvorgaben, Zwang zu körperlichen Bußübungen und den restriktiven Überwachungsmechanismen ließen internationale Medien und Menschenrechtsorganisationen aufmerksam werden. Die Klägerinnen warfen Opus Dei vor, Menschenhandel, sklavenähnliche Arbeitsverhältnisse und psychische Gewalt zu praktizieren – Vorwürfe, die auch von kirchlichen Stellen und staatlichen Ermittlungsbehörden mittlerweile geprüft werden.
Die Organisation reagierte lange Zeit mit Schweigen oder Relativierung, doch der öffentliche Druck wächst und in Argentinien wurde eine umfassende Justizuntersuchung eingeleitet. Es wird untersucht, wie viele der jungen Frauen freiwillig kamen und wie viele systematisch ausgesucht, manipuliert oder unter Druck gesetzt wurden. Die Schilderungen von ehemaligen Handmaids wie Claudia Carrero, die nach 22 Jahren im Dienst von Opus Dei fliehen konnte, geben einen erschütternden Einblick in das Leben hinter den dicken Mauern von La Chacra. Von ihrem bisherigen Dasein zwischen Gebet, körperlicher Arbeit und permanenter Überwachung bis zur Angst vor der Flucht und den Folgen zeigt ihr Zeugnis eindringlich die Unvereinbarkeit zwischen persönlicher Freiheit und dem rigiden System der konservativen Organisation. Trotz der Kritik und Aufarbeitung bleibt die Rolle Opus Deis in der argentinischen Gesellschaft ambivalent.
Die Organisation besitzt weiterhin Einfluss in Bildung, Wirtschaft und Politik und verfügt über ein breites Netzwerk, das sich über mehrere Kontinente erstreckt. Ihre oft verschleierten Machtstrukturen und die gesellschaftliche Akzeptanz konservativer Werte erschweren die umfassende Veränderung dieses Systems. Die Schließung der Handmaidenschule im Jahr 2017, aufgrund veränderter Bildungsverordnungen und öffentlichen Drucks, markierte jedoch einen wichtigen Wendepunkt. Die Fälle von Missständen und Missbrauch sorgten für ein Umdenken im Bereich der häuslichen Arbeit und der Ausbildung von Haushaltshilfen in Argentinien. Die Diskussionen um Würde, Rechte und Ausbeutung von Dienstmädchen, die schon lange tabuisiert wurden, rückten stärker in den gesellschaftlichen Fokus.
Gleichzeitig reflektiert der Fall Opus Dei und die Handmaidenschule auch den Spannungsbogen zwischen Religion, Macht und sozialer Gerechtigkeit. Die vermeintliche Heiligkeit des Dienstes wurde hier zum Mittel systematischer Unterordnung, was nicht nur Karriere und soziale Mobilität verhinderte, sondern auch das Selbstbewusstsein der jungen Frauen brüchig machte. Heute fordern viele ehemalige Schülerinnen und Unterstützungsgruppen verstärkt Aufarbeitung, Unterstützung für die Betroffenen und eine kritische Hinterfragung traditioneller Geschlechterrollen, die in solchen Institutionen gepflegt werden. Die Debatte über „würdevolle Arbeit“ für Frauen in prekären Verhältnissen bleibt aktuell und zeigt auf, wie eng wirtschaftliche Notlagen, religiöser Eifer und soziale Kontrolle verknüpft sein können. Der Fall Opus Dei in Argentinien steht exemplarisch für ein komplexes Geflecht aus Glauben, Disziplin und Konflikt zwischen Freiheit und Unterdrückung.
Er wirft Fragen auf, wie Gesellschaften mit konservativen religiösen Organisationen umgehen sollten, wenn diese sich quasi im Verborgenen konservative Macht aufbauen, um junge Menschen nach starren Idealen zu formen – oft zum Preis ihrer persönlichen Entfaltung und Würde. Die Auseinandersetzung mit der Geschichte der Handmaidenschule von Opus Dei ist daher mehr als nur die Aufarbeitung eines dunklen Kapitels in der Bildungsgeschichte Argentiniens. Sie fordert uns alle dazu auf, die Verflechtungen von Religion, Arbeit, Geschlecht und Macht kritisch zu hinterfragen und die Rechte jener zu stärken, die am stärksten von solchen Systemen betroffen sind – oft junge Frauen aus marginalisierten Schichten, die selbst kaum eine Stimme besitzen.