Vietnam steht vor einer bedeutenden demografischen Wende. Das südostasiatische Land hat nun offiziell die lange bestehende Zwei-Kind-Politik abgeschafft, um dem rapiden Rückgang der Geburtenrate entgegenzuwirken. Die Geburtenrate liegt derzeit bei nur noch 1,91 Kindern pro Frau und liegt somit unter dem als erforderlich geltenden Ersatzniveau von 2,1. Damit steht Vietnam, ähnlich wie viele andere asiatische Länder, vor den großen Herausforderungen einer alternden Gesellschaft und deren wirtschaftlichen Folgen. Die Entscheidung, die Einschränkungen für Familien aufzuheben, markiert einen tiefgreifenden Wandel in der Bevölkerungspolitik und wird weitreichende Auswirkungen auf die soziale und wirtschaftliche Struktur des Landes haben.
Die Zwei-Kind-Politik hat ihre Wurzeln im politischen System Vietnams seit den 1960er Jahren, als Nordvietnam diese Maßnahme als Teil seiner sozialistischen Familienplanung einführte. Nach der Wiedervereinigung des Landes in den 1980er und 1990er Jahren wurde diese Politik weiter verfestigt, unter anderem durch das erste Familienplanungsgesetz von 1988. Diese Regelung war jedoch nie flächendeckend streng durchgesetzt. Besonders Mitglieder der Kommunistischen Partei mussten sich an die Vorgaben halten, während es in der Allgemeinbevölkerung gelegentlich Ausnahmen gab. Trotz der Lockerung der Politik Anfang der 2000er Jahre, die allerdings 2008 wieder zurückgenommen wurde, blieb die Zwei-Kind-Grenze bis vor kurzem bestehen.
In den letzten Jahren zeichnete sich jedoch eine bedrohliche demografische Entwicklung ab. Die Geburtenzahlen sind kontinuierlich gesunken, mit einem Rückgang von 2,11 Kindern pro Frau im Jahr 2021 auf 1,91 im Jahr 2024. Besonders in urbanen Zentren wie Ho-Chi-Minh-Stadt ist die Fallzahl dramatisch gesunken. Dort liegt die Geburtenrate sogar bei lediglich 1,32 Kindern pro Frau – eine Zahl, die alarmierend niedrig ist. Der Grund für diesen Rückgang liegt vor allem in den steigenden Lebenshaltungskosten, vor allem für junge Familien, die zunehmend Schwierigkeiten haben, sich den Unterhalt von Kindern leisten zu können.
Diese Entwicklung hat sich bestätigt, nachdem verschiedene Provinzen finanzielle Anreize eingeführt haben, um Paare zu ermutigen, mehr Kinder zu bekommen. Zu diesen Maßnahmen zählen unter anderem kleine Geldprämien für Frauen, die vor dem 35. Lebensjahr zwei Kinder zur Welt bringen, wie etwa rund eine Million Dong (umgerechnet etwa 28 britische Pfund). Zudem werden zur Förderung der Geburten lokalere Initiativen gestartet, wie die Auszahlung von 30 Millionen Dong an Gemeinden, in denen 60 Prozent der Paaren im gebärfähigen Alter über drei Jahre hinweg mindestens zwei Kinder bekommen haben. Trotz dieser Anreize geht der Trend jedoch weiter nach unten.
Die Politik steht somit vor der Herausforderung, tiefgreifendere Ursachen anzugehen, die zum Rückgang der Geburtenrate beitragen. Die sinkende Geburtenrate hat weitreichende Konsequenzen für Vietnam. Die Regierung fürchtet, dass eine weiter alternde Gesellschaft die Wirtschaft langfristig schädigen könnte. Weniger junge Menschen im erwerbsfähigen Alter bedeuten in Zukunft Arbeitskräftemangel, der sowohl den privaten als auch den öffentlichen Sektor belastet. Zudem würde eine alternde Bevölkerung die sozialen Sicherungssysteme zusätzlich unter Druck setzen, da mehr Menschen auf Renten und Gesundheitsleistungen angewiesen sind.
Dies gefährdet das dynamische Wirtschaftswachstum Vietnams, das in den vergangenen Jahrzehnten als einer der Wachstumsmotoren Südostasiens galt. Die Situation Vietnams ist dabei kein Einzelfall. Viele Länder weltweit sehen sich mit ähnlichen Entwicklungen konfrontiert. Besonders in Asien ist der Geburtenrückgang ein verbreitetes Phänomen. Nachbarländer wie Singapur, Thailand und Malaysia erleben ebenfalls rapide sinkende Geburtenraten.
Ein besonders bekannter Fall ist Japan, dessen Nationalstatistik für das Jahr 2024 rekordverdächtige Zahlen mit weniger als 700.000 Geburten seit Beginn der Aufzeichnungen meldet. Selbst China, das traditionell eine strenge Geburtenkontrolle verfolgte, hat im Jahr 2016 die Ein-Kind-Politik aufgehoben und erlaubt seit 2021 offiziell bis zu drei Kinder pro Familie. Dennoch sank die Bevölkerungszahl Chinas im Jahr 2024 erneut, was deutlich die Komplexität des Problems hervorhebt. Neben der niedrigen Geburtenrate kämpft Vietnam weiterhin mit einem unausgewogenen Geschlechterverhältnis bei der Geburt.
Die historische Präferenz für männliche Nachkommen führte dazu, dass auf 100 Mädchen etwa 112 Jungen geboren werden. Obwohl sich diese Zahl inzwischen leicht verbessert hat, bleibt sie problematisch. Der Staat hat deshalb jüngst vorgeschlagen, die Strafen für vorgeburtliche Geschlechterselektion zu verdreifachen. Mit einer angestrebten Geldstrafe von rund 3.800 US-Dollar möchte das Gesundheitsministerium dem Trend entgegenwirken, bei dem gezielt weibliche Föten abgetrieben werden.
Die Abschaffung der Zwei-Kind-Politik in Vietnam ist ein bedeutender Schritt, um die Bevölkerungspolitik neu auszurichten und den demografischen Herausforderungen zu begegnen. Der neue Ansatz zielt darauf ab, Familien mehr Freiheit zu geben und die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen für Kinderfreundlichkeit zu verbessern. Doch dies allein wird nicht ausreichen, um die Geburtenraten wieder auf ein nachhaltiges Niveau zu bringen. Es bedarf umfassender sozialer und wirtschaftlicher Reformen, um den jungen Familien attraktive Perspektiven zu bieten und die finanzielle Belastung zu reduzieren. Eine zentrale Aufgabe bleibt die Bekämpfung der hohen Lebenshaltungskosten in den großen Städten.
Hier könnten staatliche Unterstützungsprogramme für Kinderbetreuung, bezahlbaren Wohnraum und Bildungskosten eine wichtige Rolle spielen. Gleichzeitig müssen traditionelle kulturelle Werte, welche die Familienplanung und das Kinderkriegen beeinflussen, berücksichtigt und sensibel angesprochen werden. Die Rolle der Frau und die Vereinbarkeit von Familie und Beruf sind ebenfalls Schlüsselfaktoren, die in den künftigen politischen Maßnahmen verstärkt berücksichtigt werden müssen. Vietnam steht damit exemplarisch für viele Länder, die sich im 21. Jahrhundert vor den Herausforderungen einer sich wandelnden Demografie sehen.
Die im Juni 2025 offiziell verkündete Aufhebung der Zwei-Kind-Politik markiert einen wichtigen Wendepunkt, der neue Chancen, aber auch große Herausforderungen mit sich bringt. Wie erfolgreich Vietnam diesen Übergang gestalten kann, wird maßgeblich darüber entscheiden, ob das Land seine sozialen und wirtschaftlichen Ziele in den kommenden Jahrzehnten erreichen kann. Die kommenden Jahre werden zeigen, wie effektiv die ergriffenen Maßnahmen sind und ob junge Familien in Vietnam wieder mehr Kinder in die Welt setzen. Die globale Dimension dieser Thematik wird immer offensichtlicher, und die Erfahrung Vietnams liefert wertvolle Erkenntnisse über die komplexen Zusammenhänge zwischen Politik, Gesellschaft und demographischer Entwicklung. Das langsame aber stetige Demografie-Wandel erfordert flexible und innovative Ansätze, um langfristig stabile und lebenswerte Gesellschaften zu schaffen.
Vietnam ist nun auf dem Weg, neue Lösungen zu finden, während die Welt mit Spannung beobachtet, wie das Land seine wachsenden demografischen Herausforderungen meistern wird.