Die Geschichte vom dreijährigen Schornsteinfeger, der in historischen Filmaufnahmen scheinbar seine gefährliche Arbeit verrichtet, hat in den letzten Jahren immer wieder für Aufsehen gesorgt und Empörung ausgelöst. Millionen Menschen reagierten schockiert, kaum zu glauben, dass ein Kleinkind solch einer lebensbedrohlichen Arbeit einst nachgehen musste. Doch bei genauem Hinsehen entpuppt sich dieses Bild als falsch interpretiert und die Aufnahme entstammt vielmehr einem inszenierten Szenario, das tiefergehende Fragen zur historischen Realität und deren Wahrnehmung aufwirft. Der Ursprung des viralen Videos liegt im umfangreichen Archiv von British Pathé, einer renommierten Sammlung von historischen Filmaufnahmen. Die Filmsequenz wird dort als „Sehr junger Junge arbeitet mit seinem Vater als Schornsteinfeger“ bezeichnet und auf das Jahr 1933 datiert.
Die Oberflächlichkeit dieser Beschreibung birgt bereits erste Unschärfen. Betrachtet man die Szene eingehender, offenbaren sich Hinweise, die ein anderes Bild ergeben. Die im Hintergrund sichtbaren Schilder sind auf Deutsch verfasst, mit Begriffen wie “Luxus Geschirr” und “Eingang”, was nahelegt, dass die Aufnahme in einem deutschsprachigen Land entstanden ist. Geübte Augen, die sich mit der europäischen Stadtgeschichte der 1920er bis 1940er Jahre beschäftigen, finden im Pflaster und der Architektur klare Hinweise auf Berlin. Das charakteristische Kopfsteinpflaster zusammen mit den großen Steinplatten ist ein typisches Merkmal dieses städtischen Raumes jener Epoche.
Zudem bestätigt die Gestaltung der Straßenbahnen im Hintergrund, die typischen Berliner Modelle der damaligen Zeit, die Vermutung. Ein vergleichender Blick auf das Filmmaterial zeigt Parallelen zu bekannten Berliner Filmen wie Fritz Langs Meisterwerk „M“ von 1931. Verschiedene Elemente der Umgebung sind mit Szenen aus dem Film und anderen zeitgenössischen Bildern identisch, was die Lokalisierung der Szene in Berlin nahezu bestätigt. Noch deutlicher wird die Einordnung durch die Entdeckung einer Fotografie, die dieselbe Szene beziehungsweise dieselben Personen zeigt. Das Bild stammt aus einem polnischen Magazin von 1929 und trägt die Bildbeschreibung „Ein Schornsteinfeger und sein Sohn gehen zur Arbeit.
Foto, Berlin 1930er Jahre“. Diese Quellenverbindung ist entscheidend, da das Bild früher als das angebliche Filmdatum von 1933 datiert ist – die tatsächliche Entstehung der Aufnahme liegt demnach im Zeitraum um 1929. Die Identität der abgebildeten Personen lässt sich ebenfalls eingrenzen. Die Namen Otto Böhnke als Vater und Horst Böhnke als Sohn wurden durch Recherche in zeitgenössischen Adressbüchern und Magazinen gefunden. Otto war Schornsteinfeger in Berlin und seine Familie lebte in der Alte Jakobstraße.
Horst Böhnke wurde bereits als Kleinkind in mehreren Zeitungsartikeln erwähnt, was nahelegt, dass das Foto und der Film eher als Werbe- oder PR-Aufnahmen inszeniert wurden statt als reale Arbeitssituation. Historiographisch betrachtet ist die Vorstellung, dass ein dreijähriges Kind tatsächlich Schornsteinfegerarbeit erledigte, äußerst unwahrscheinlich. Die Geschichte der Kinderarbeit in Europa ist bekannt für ihre Härte und Ausbeutung, und reale Fälle von Kindern, die in diesem Beruf tätig waren, gehen größtenteils auf das 18. und 19. Jahrhundert zurück.
Schon damals begannen gesellschaftliche und gesetzliche Maßnahmen, diese Praxis zu beschränken und in Deutschland gab es mit dem Preußischen Regulativ von 1839 sowie weiteren Gesetzen ab 1903 strenge Vorschriften zum Schutz von Kindern. Diese gesetzlichen Vorgaben untersagten Kindern unter einem Alter zwischen zehn und dreizehn Jahren ausdrücklich, als Schornsteinfeger zu arbeiten. Die Einhaltung der Vorschriften wurde überwacht, und viele Dokumente und Berichte weisen darauf hin, dass in Berlin der späten 1920er und frühen 1930er Jahre solche Gesetzesbrüche selten waren und strikt sanktioniert wurden. Von einem Kleinkind in diesem gefährlichen Beruf ganz zu schweigen. Auch zeigen die Werkzeuge, die der kleine Junge in der Aufnahme benutzt, dass es sich um eine Verkleinerung handelt.
Leiter, Bürsten und eine Kohlenkugel sind alle in Miniatur dargestellt, was bei tatsächlicher Arbeit nicht praktikabel gewesen wäre, da detaillierte Werkzeuge dieser Art erwachsenengroß sein mussten, um effektiv zu funktionieren. Überdies waren seit dem 19. Jahrhundert moderne Reinigungsgeräte mit Teleskopstangen gebräuchlich, die es erlaubten, Schornsteine vom Boden aus zu reinigen. Diese Erfindung reduzierte die Notwendigkeit, körperlich in Gefahrenzonen am Schornstein zu klettern, erheblich und machte den Einsatz von Kindern für solche Tätigkeiten überflüssig und obsolet. Eine kulturelle Dimension wird ebenfalls sichtbar: In Deutschland waren Schornsteinfeger ein beliebtes Symbol für Glück.
Postkarten mit Kindern in Schornsteinfeger-Kostümen erfreuten sich großer Beliebtheit und werden auch heute noch als Glücksbringer betrachtet. Das Verkleiden von Kindern zu diesen Figuren hatte eine lange Tradition und passte gut zu einem positiven, volkstümlichen Bild. Die Tatsache, dass Passanten das Kind in der Straße wahrnahmen, lächelten und sich die Szene fotografisch festhalten ließen, unterstreicht den inszenierten Charakter. Das Interesse war eher an der ungewöhnlichen, putzigen Erscheinung eines Miniatur-Schornsteinfegers gerichtet als an dramatischen Dokumentationen tatsächlicher Kinderarbeit. Bei der Betrachtung der chronologischen Abfolge und der Lebensdaten werden Ungenauigkeiten in der medialen Berichterstattung sichtbar.
Verschiedene Zeitungen gaben das Alter von Horst Böhnke zu unterschiedlichen Zeiten unterschiedlich an, oftmals mit Abweichungen von mehreren Monaten bis zu einem ganzen Jahr. Diese Ungenauigkeiten sprechen für die Reproduktion einer Geschichte, die mehr werbewirksamen Zwecken diente als journalistischer Sorgfalt. Das Schicksal der abgebildeten Familie, insbesondere von Horst Böhnke, ist bisher nur teilweise bekannt. Während es Daten gibt, die auf eine Person gleichen Namens verweisen, die im Zweiten Weltkrieg gefallen ist, ist nicht sicher, ob es sich dabei um denselben Horst handelt. Die genaue Recherche gestaltet sich schwierig, denn viele Archivdaten aus dieser Zeit sind unvollständig oder widersprüchlich.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die viral gegangene Vorstellung eines dreijährigen Schornsteinfegers eine historische Fehlinterpretation ist, die auf einem inszenierten Film und begleitendem Fotomaterial basiert. Die rechtlichen, sozialen und technischen Rahmenbedingungen in Deutschland der 1920er und 1930er Jahre machten eine tatsächliche Ausbeutung eines Kleinkindes in diesem Beruf praktisch unmöglich und gesellschaftlich nicht akzeptiert. Das Beispiel zeigt eindrucksvoll, wie leicht öffentliche Narrative auf bewegten Bildern und Fotos entstehen, die einen scheinbar klaren Augenzeugenbeweis liefern. Doch ohne Kontext, Hintergrundwissen und kritische Recherche können solche Bilder irreführend sein, Falschinformationen verstärken und sogar emotionale Falscheindrücke hervorrufen. Die Geschichte um Horst und Otto Böhnke dagegen lädt dazu ein, genauer hinzusehen, die Kulturgeschichte zu erforschen und die Zeitumstände zu verstehen.
Sie öffnet einen Blick auf die Lebenssituationen in Berlin zwischen den Weltkriegen, auf die Bedeutung der Schornsteinfeger als Glückssymbol und auf die Entwicklung des Kinderschutzes in Deutschland. Aktuelle und zukünftige Forschungen könnten weitere Details über die Familie und den Zweck der Filmaufnahmen liefern. Bis dahin bleibt die Geschichte ein faszinierendes Beispiel dafür, wie Geschichte, Mythos und Medien sich wechselseitig beeinflussen – und warum es sich lohnt, hinter scheinbar einfache Bilder die komplexen Wahrheiten zu suchen.