Jacob Riis gilt als eine der bedeutendsten Persönlichkeiten der sozialen Reformbewegung im Amerika des späten 19. Jahrhunderts. Seine Arbeit als Fotograf und Journalist enthüllte das oft übersehene und verdrängte Elend der Armen, insbesondere der Einwanderer, in den heruntergekommenen tenement buildings, den beengten Mietskasernen New Yorks. Sein bekanntestes Werk „How the Other Half Lives“ (Wie die andere Hälfte lebt), veröffentlicht 1890, öffnete einer breiten Öffentlichkeit die Augen für die katastrophalen Lebensbedingungen, unter denen ein großer Teil der Stadtbevölkerung litt. Dabei war Riis kein Fotograf im herkömmlichen Sinne.
Ohne professionelle Ausbildung brachte er sich die Fotografie autodidaktisch bei, getrieben von dem Wunsch, seine Geschichten nicht nur mit Worten, sondern auch mit Bildern zu erzählen und so die soziale Ungerechtigkeit plastisch und unübersehbar zu machen. Geboren 1849 in Dänemark, wanderte Riis mit 21 Jahren 1870 nach New York City aus. Er kam mit nur 40 Dollar in der Tasche, einem Goldanhänger mit dem Haar seiner Verlobten und der Hoffnung, als Zimmermann Arbeit zu finden. Doch die Realität der Stadt war hart: Systematische Armut, extrem schlechte Wohnverhältnisse und soziale Missstände prägten die Lebenswelt gerade der ärmeren Einwanderer. Schon bald musste Riis wie viele andere in beengten, ungesunden Mietskasernen wohnen, die von Krankheiten und Elend durchdrungen waren.
Es waren diese eigenen Erfahrungen, die ihn stark prägten und schließlich sein Engagement für die Benachteiligten entfachten. Riis begann seine berufliche Laufbahn mit verschiedensten Gelegenheitsjobs. Erst als er eine Stelle als Journalist-Anwärter bei der New York News Association erhielt, gelang ihm der berufliche Durchbruch. Als Reporter für mehrere Zeitungen, unter anderem die New-York Tribune, übernahm er bald die Aufgabe eines Polizeireporters. Diese Position verschaffte ihm einen einzigartigen Einblick in das Alltagsleben der ärmeren Bevölkerungsschichten.
Doch Riis wollte mehr als nur darüber berichten, was er hörte – er wollte es sichtbar machen. Die Vorstellung, seine Eindrücke und Beobachtungen fotografisch festzuhalten, setzte einen entscheidenden Impuls für seine spätere Arbeit. Die Fotografie war im späten 19. Jahrhundert noch ein relativ neues Medium, und die Verwendung von Blitzequipment, um dunkle Innenräume zu beleuchten, war revolutionär. Riis nutzte diese Technik, um Szenen aus den dämmrigen Zimmern der tenements bei Nacht festzuhalten.
Das Resultat waren verstörende und eindringliche Bilder, die der besseren Schichtung der Stadtbevölkerung verborgene Realität enthüllten. Die Fotos zeigten heruntergekommene, überfüllte Räume, Raucherhöhlen, schmutzige Straßen und vor allem Menschen – Familien, Kinder, alte Menschen – die in erbärmlichen Verhältnissen ums Überleben kämpften. Sein 1890 veröffentlichtes Buch „How the Other Half Lives“ verband diese spezifischen visuellen Beweise mit schonungslosen Texten, welche die alltäglichen Notlagen schilderten. Riis schrieb darin unter anderem: „Vor langer Zeit hieß es, die andere Hälfte der Welt wüsste nicht, wie die andere Hälfte lebt. Das war damals wahr.
Sie wusste es nicht, weil es ihr egal war.“ Damit brachte er den sozialen Graben zwischen Reichen und Armen auf den Punkt und forderte die wohlhabende Gesellschaftsschicht heraus, sich ihrer Verantwortung zu stellen. Riis’ Buch entwickelte sich schnell zu einem wichtigen Instrument des sozialen Wandels. Die deutlich gemachten Missstände führten zu politischen Initiativen und Gesetzesänderungen, die darauf abzielten, die Wohnbedingungen in den Slums zu verbessern und Krankheiten einzudämmen. Seine Fotoreportagen stießen auch bei politischen Entscheidungsträgern auf Resonanz, darunter Theodore Roosevelt, der damals Leiter der Polizeibehörde von New York war.
Gemeinsam inspizierten sie führungslos betriebene Polizeistationen und fanden heraus, dass neun von zehn Beamten ihre Schichten vernachlässigten. Durch Riis’ Berichterstattung kam es zu einer umfassenden Reform und Verbesserungen in der Polizeiarbeit. Darüber hinaus machte Riis auf gesundheitliche Gefahren aufmerksam, die durch verunreinigtes Trinkwasser entstanden. Er dokumentierte mit seiner Kamera, wie Abwässer direkt in Trinkwasserquellen geleitet wurden und veröffentlichte daraufhin Artikel, die die Stadt New York zum Handeln zwangen. Der Kauf von Land rund um den New Croton Reservoir und verbesserte Kontrolle der Wasserversorgung trugen maßgeblich zur Vermeidung von Cholera-Ausbrüchen bei.
Auch Gesetzesinitiativen zur Schaffung kleiner Parks in überfüllten Stadtteilen, wie das Small Park Act von 1887, folgten auf die Enthüllungen Riis’ und schufen dringend benötigte grüne Oasen in dicht bebauten Vierteln. Jacob Riis gilt als Pionier des investigativen Fotojournalismus, ein Ansatz, der Foto und Text zur Aufdeckung sozialer Probleme kombiniert. Sein Werk inspirierte Generationen von Fotografen und Sozialakteuren. Zu den bedeutenden Nachfolgern zählt beispielsweise Lewis Hine, dessen Bilder von ausbeuterischer Kinderarbeit wesentlich zur Einführung von Kinderschutzgesetzen beitrugen. Ebenso ist Dorothea Lange zu nennen, deren eindrucksvolle Fotografien während der Great Depression das Schicksal der armen Landbevölkerung dokumentierten und Mitgefühl weckten.
Die Tradition der sozial engagierten Straßenfotografie, die das urbane Leben auch in seinen dunklen Seiten sichtbar macht, ist ebenfalls eng mit Riis’ Vermächtnis verknüpft. Zeitgenössische Fotografen wie Camilo José Vergara, Vivian Cherry oder Richard Sandler führen diese Arbeit fort, indem sie weiterhin die Herausforderungen sozialer Ungleichheit und die Lebenswelten marginalisierter Menschen festhalten. Riis' Mut, unbequeme Wahrheiten sichtbar zu machen, bleibt ein Maßstab für die Kraft der Fotografie als Instrument des gesellschaftlichen Bewusstseins und der Veränderung. Riis’ Lebenswerk hatte nachhaltige Auswirkungen auf die amerikanische Gesellschaft und die Art und Weise, wie Fotografie als Mittel zur sozialen Aufklärung betrachtet wird. Seine Arbeit zeigt auch heute noch, wie wichtig es ist, die Lebensrealitäten von Menschen am Rand der Gesellschaft sichtbar zu machen und Verantwortung für soziale Gerechtigkeit zu übernehmen.