Evelyn De Morgan ist eine der faszinierendsten Künstlerinnen der viktorianischen Epoche, deren Werk jedoch lange Zeit im Schatten ihrer männlichen Zeitgenossen stand. Als Mitglied der ausklingenden Pre-Raphaelite Bewegung hat sie mit ihren Gemälden nicht nur klassizistische Schönheit und mythologische Motive eingefangen, sondern auch eine tiefgründige und oftmals versteckte Botschaft zum Thema des Ersten Weltkriegs vermittelt. Ihre Bilder sind von einer spirituellen Dimension durchdrungen, die den Schrecken und die Hoffnung während des globalen Konflikts ausdrückt und dabei zeitlose Fragen über Gut und Böse, Leben, Tod und Wiedergeburt behandelt. Im Zentrum von De Morgans Schaffen steht das große Gemälde „Der Tod des Drachen“, ein monumentales Werk, das zwischen 1914 und 1918 entstand. Auf den ersten Blick erinnert diese Szene an eine apokalyptische Vision aus der Offenbarung des Johannes, mit geflügelten Engeln und feuerspeienden Drachen.
Doch das Bild ist mehr als nur biblische Bildsprache. Es symbolisiert die ganze Qual und Unterdrückung des Ersten Weltkriegs und stellt den Kampf zwischen guten und bösen Mächten dar, die sich auf der Weltbühne gegenüberstehen. Durch die Komposition, die vom Werk Botticellis „Die Geburt der Venus“ inspiriert ist, vermittelt De Morgan zugleich Hoffnung auf eine spirituelle Wiedergeburt und das Ende der Finsternis. Neben dieser eindrucksvollen Allegorie spiegelt ihr gesamtes Oeuvre die kollektive Angst und den Verlust wider, die Millionen Menschen während des Krieges erlitten. Viele ihrer Darstellungen zeigen weibliche Figuren als aktive, mächtige Wesen, die elementare Kräfte beherrschen oder für Frieden und Weisheit stehen.
Diese Darstellung bricht bewusst mit der oft passiven Rolle von Frauen in der Kunst ihrer Zeit und liefert eine starke feministischen Perspektive, die den gesellschaftlichen Wandel und die Forderungen nach Gleichberechtigung widerspiegelt. De Morgans Werk thematisiert also nicht nur das unmittelbare Leid des Krieges, sondern setzt sich auch für eine bessere, gerechtere Zukunft ein. Dabei ist De Morgans Bildsprache hochsymbolisch und verleitet den Betrachter dazu, hinter den sichtbaren Figuren und Szenen verborgene Bedeutungen zu entdecken. Sie verwendet wiederkehrende Motive wie Kronen als Zeichen von Gier, gefesselte Seelen als Symbol für Gefangenschaft – sei es gesellschaftlich oder persönlich – und dunkle Engel oder Sanduhren als Metaphern für die Vergänglichkeit des Lebens. Ihr Werk kann somit auch als eine Form kodierter Botschaften verstanden werden, die den Schrecken des Krieges mit spiritueller Kontrolle und einer tieferen Wahrheit verweben.
Die politische Dimension von De Morgans Kunst ist ebenso bedeutend. Als überzeugte Pazifistin und Aktivistin kritisierte sie offen die Brutalität von Konflikten und zeigte in ihren Gemälden die Schmerzen, die sie verursachen. Werke wie „Unsere Dame des Friedens“ oder „Das Rote Kreuz“ thematisieren die schrecklichen Folgen von Krieg, aber auch die Hoffnung auf Versöhnung und göttlichen Trost. Ihr Engagement für den Frieden war dabei nicht nur künstlerisch, sondern auch privat von Bedeutung. Das Umfeld der De Morgans war tief geprägt von spirituellen Praktiken und dem Glauben an ein Leben nach dem Tod, was die Verarbeitung der traumatischen Kriegserfahrungen zusätzlich beeinflusste.
Ein weiterer Aspekt, der Evelyn De Morgan von vielen ihrer Zeitgenossen abhebt, ist ihre technische und stilistische Innovation. Ihre Experimente mit Goldpigmenten und neue Maltechniken, entwickelt zusammen mit ihrem Mann William De Morgan, verliehen ihren Werken eine besondere Tiefe und Lebendigkeit. Farblich wagte sie unkonventionelle Kombinationen aus Pink und Lila und brachte oft Ringformen und Regenbogenlichter ins Bild, die Jahrzehnte später in der psychedelischen Kunst der 1970er Jahre wiederaufgefunden wurden. Diese stilistische Vorwegnahme und die fantastischen Mischwesen in ihren Bildern verbinden die klassische Kunsttradition mit modernen Einflüssen und der Fantasyliteratur. Die Rezeption von De Morgans Werken hat sich in den letzten Jahren deutlich verbessert, nachdem sie lange Zeit im Schatten berühmter Persönlichkeiten wie William Morris oder Dante Gabriel Rossetti stand.
Jede neue Ausstellung, wie jene im Guildhall Art Gallery in London, trägt dazu bei, ihre Bedeutung nicht nur für die Kunstgeschichte, sondern auch für das kulturelle Verständnis des Ersten Weltkriegs zu verdeutlichen. Dabei zeigen die Ausstellungen viele seltene oder wiederhergestellte Werke, die Eindrücke von Krieg, Tod, Transzendenz und Hoffnung schlüssig miteinander verweben. In der heutigen Auseinandersetzung mit Kunst und Geschichte bietet das Werk von Evelyn De Morgan eine vielschichtige Perspektive auf den Ersten Weltkrieg, die weit über die bloße Darstellung von Schlachtfeldern hinausgeht. Ihre Gemälde sind voll von verschlüsselten Details, die es ermöglichen, tief in die psychologische und spirituelle Stimmung jener Zeit einzutauchen. Sie unterscheiden sich dabei stark von den dokumentarischen oder propagandistischen Kunstwerken, indem sie die emotionale und metaphysische Wirklichkeit des Krieges in den Vordergrund rücken.
So wird ihre Kunst zu einem wichtigen Zeitzeugenwerk, das Trauer, Hoffnung, Protest und die Suche nach Sinn in einer dunklen Epoche anschaulich macht. Die Wiederentdeckung von Evelyn De Morgans Meisterwerken führt zu einem erweiterten Verständnis über die Rolle von Künstlerinnen in der Geschichte und öffnet den Blick für eine alternative Interpretation der Kriegserfahrung. Sie zeigt, dass Kunst nicht nur Reflexion der Realität ist, sondern auch ein Medium zur Verarbeitung kollektiven Leids und zur Gestaltung geistiger Zukunftsbilder. Insbesondere in Zeiten, in denen Krieg, soziale Ungerechtigkeit und spirituelle Fragen erneut auf der globalen Agenda stehen, erscheinen die Werke De Morgans aktueller denn je. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Evelyn De Morgan eine Künstlerpersönlichkeit war, die es verstand, die Schrecken des Ersten Weltkriegs mit tiefgründigen Mythen, feministischen Symbolen und spiritueller Hoffnung zu verschmelzen.
Durch ihre rohe Emotionalität und ihre präzisen Allegorien schaffen ihre Gemälde eine einzigartige Verbindung zwischen Vergangenheit und Gegenwart. Das Übersehen ihres Werkes in der Kunstgeschichte wird zunehmend als Verdienst entdeckt und würdigt nicht nur das künstlerische Talent dieser außergewöhnlichen Frau, sondern auch ihre visionäre Kraft, die auch heute noch viele Menschen berührt und inspiriert.