In den letzten Jahren hat sich in Europa ein wachsender Trend abgezeichnet: Die Debatte um den Entzug der Staatsbürgerschaft bei Straftätern gewinnt an Fahrt und sorgt für kontroverse Diskussionen in Gesellschaft und Politik. Dabei geht es vor allem um Menschen mit doppelter Staatsbürgerschaft, bei denen die Regierungen zunehmend bereit sind, die innere Verbundenheit eines Individuums mit dem Staat an Bedingungen zu knüpfen und diese im Falle bestimmter Verbrechen zu widerrufen. Die Idee, dass Staatsbürgerschaft kein unveräußerliches Recht mehr ist, sondern ein Privileg, das «verdient» werden muss, hat europaweit eine bislang kaum dagewesene Dynamik angenommen und verändert die Vorstellung davon, was es heute bedeutet, Bürger eines Landes zu sein. Der Ursprung dieser Entwicklung lässt sich vor allem auf Großbritannien in den frühen 2000er-Jahren zurückverfolgen, als die Regierung unter Tony Blair begann, den Begriff der Staatsbürgerschaft neu zu definieren. Hier entstand die Vorstellung von «erarbeiteter Staatsbürgerschaft», wonach Staatsangehörigkeit nicht nur verschenkt, sondern durch ein bestimmtes Verhalten erworben und auch wieder aberkannt werden könne.
Dies war vor allem eine Antwort auf steigende Sorgen um Terrorismus und die nationale Sicherheit und versuchte, den Rechtsrahmen so zu gestalten, dass man Personen, die als Bedrohung angesehen wurden, wirksam begegnen konnte. Seitdem hat sich diese Denkweise in viele andere europäische Länder ausgebreitet. Beispielsweise hat Schweden jüngst Pläne vorgestellt, ihre Verfassung so zu ändern, dass Menschen mit doppelter Staatsbürgerschaft, die schwere Straftaten wie Spionage oder Hochverrat begehen, ihre schwedische Staatsangehörigkeit verlieren können. Diese Vorschläge verfolgen den Ansatz, dass gewisse Vergehen die Grundlage der Zugehörigkeit zu einer Nation infrage stellen und darüber hinausgehende Konsequenzen rechtfertigen. Solche Vorstöße haben auch in Finnland, Island und den Niederlanden Verbreitung gefunden, wo ähnliche Forderungen oder Überlegungen zum Entzug der Staatsbürgerschaft bei bestimmten Verbrechen laut wurden.
Besonders prägnant war die Debatte in Deutschland nach der Bundestagswahl, als Friedrich Merz, Vorsitzender der konservativen CDU/CSU, öffentlich forderte, dass insbesondere Doppelstaatsbürger ihre deutsche Staatsangehörigkeit verlieren sollen, wenn sie strafrechtlich in Erscheinung treten. Seine Position stieß auf heftige Kritik, da viele Stimmen darin eine Diskriminierung und eine indirekte Diskreditierung von Minderheiten sahen. Kritiker warnten, dass dadurch ein zweiklassiges Staatsbürgerschaftssystem entstehen könne, in dem bestimmte Bevölkerungsgruppen ständig unter dem Damoklesschwert der Entbürgerung leben – ungeachtet ihrer Biografie oder Herkunftsfamilie. Auch wurde darauf hingewiesen, dass solche Regelungen de facto eine «Probemitgliedschaft» suggerierten, bei der die Zugehörigkeit abhängig von Wohlverhalten sei und bei einem Fehltritt sofort aberkannt werden könne. Die Einbindung der Staatsbürgerschaft in Diskussionen über nationale Sicherheit und Kriminalität hat unerwartete soziale Folgen.
Viele Experten befürchten, dass dadurch soziale Spaltungen und Vorurteile verstärkt werden. Die Assoziation zwischen ethnischer Herkunft, Migration und Kriminalität wird in vielen Fällen verallgemeinernd gefasst, obwohl empirische Daten keinen signifikanten Zusammenhang zwischen Migration und Kriminalität in Europa belegen. Die Idee, nur bestimmte Gruppen könnten «gute» Staatsbürger sein, sorgt für ein Klima der Unsicherheit und Ausgrenzung, das auch Integrationsbemühungen konterkariert. Rechtlich gesehen stehen die Strafgesetze und der Bevölkerungsschutz in einem Spannungsverhältnis zu grundsätzlichen Prinzipien des Völkerrechts, die es verbieten, Menschen staatenlos zu machen. Deshalb zielen die meisten neuen Gesetze auf Doppelstaatsbürger ab, da diese durch eine zweite Staatsangehörigkeit geschützt sind.
Doch allein dieses Kriterium wirft Fragen auf. Es führt zur Ungleichbehandlung zwischen Einstaatsbürgern und Doppelstaatsbürgern und isoliert zudem Personen, die eigentlich am stärksten in die Gesellschaft integriert sind. Menschen mit doppelter Staatsbürgerschaft sehen sich somit einem höheren Risiko ausgesetzt, im Falle eines Verbrechens ihre staatsbürgerlichen Rechte zu verlieren. Diese Ungleichheit kann leicht zu einem Gefühl permanenter Unsicherheit führen und die gesellschaftliche Teilhabe und Identifikation mit dem Land beeinträchtigen. Menschen, deren Staatsbürgerschaft zur Disposition steht, leben in einem Status, in dem sie ständig beweisen müssen, dass sie «würdig» sind, obwohl sie oft seit Generationen Teil der Gesellschaft sind.
Die soziale Isolation, die daraus resultiert, und der Verlust von Rechten können wiederum kontraproduktiv für die innere Sicherheit sein. So zeigen Untersuchungen, dass Personen, die sich stigmatisiert fühlen oder an den Rand gedrängt werden, eher das Risiko eingehen, Straftaten zu begehen oder radikalisiert zu werden. Hinzu kommt das praktische Problem, dass manche Menschen nach dem Entzug der Staatsbürgerschaft in einer sogenannten Rechtlosigkeit verharren, wenn das Land ihrer anderen Staatsangehörigkeit sie nicht aufnimmt oder wenn keine klare Aufenthaltsregelung besteht. Diese Menschen können sich in einer juristischen Grauzone wiederfinden, die sie anfällig macht und zugleich die Behörden vor Steuerungs- und Kontrollproblemen stellt. Vor allem in Ländern wie Dänemark, die durchgesetzt haben, dass auch gangbezogene Kriminalität ein Grund für den Verlust der Staatsbürgerschaft sein kann, zeigt sich, wie weitreichend die politischen und gesellschaftlichen Folgen sein können.
Diese Gesetze sind Teil einer umfassenderen Verschiebung, bei der Rechtspopulismus und nationalistische Bewegungen das politische Klima in vielen europäischen Ländern prägen. Die Politik fokussiert sich verstärkt auf Sicherheit und Kontrolle und verwendet den Entzug der Staatsbürgerschaft als eine symbolische Maßnahme, um Stärke gegenüber Kriminalität und Terrorismus zu demonstrieren. Allerdings gibt es weiterhin wenig wissenschaftliche Evidenz, dass der Entzug der Staatsbürgerschaft tatsächlich abschreckend auf potenzielle Straftäter wirkt. Diese Maßnahmen dienen oft mehr der politischen Inszenierung als einer nachhaltigen Bekämpfung von Kriminalität. Experten warnen zudem davor, dass sie bestehende gesellschaftliche Spannungen verschärfen und das Vertrauen in den Rechtsstaat untergraben können.
Die Entwicklung zeigt, dass die Bedeutung von Staatsbürgerschaft als grundlegendem Teil der demokratischen Gesellschaft im Wandel ist. Während sie früher primär ein unverzichtbares Bürgerrecht darstellte, das Schutz und Zugehörigkeit garantierte, wird sie zunehmend als steuerbares Instrument im Bereich der inneren Sicherheit gesehen. Die Herausforderung besteht darin, einen Ausgleich zu finden zwischen dem berechtigten Schutz des Staates und der Wahrung der individuellen Rechte und Menschenwürde. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Idee, Menschen bei schweren Straftaten die Staatsbürgerschaft zu entziehen, in Europa schnell Verbreitung gefunden hat und tiefe gesellschaftliche Fragen aufwirft. Die politische Instrumentalisierung dieses Instruments wirft fundamentale Fragen nach Gerechtigkeit, Integration und Demokratie auf.
Während Regierungen den Wunsch haben, ihre Bürger zu schützen, müssen sie zugleich darauf achten, dass solche Maßnahmen nicht zu sozialer Ausgrenzung, Diskriminierung und langfristiger Instabilität führen. Die Zukunft wird zeigen, wie sich diese Debatte weiter entwickelt und welche rechtlichen, sozialen und politischen Lösungen gefunden werden, um einerseits Sicherheit zu gewährleisten und gleichzeitig den Zusammenhalt europäischer Gesellschaften zu stärken.