Für viele berufstätige Menschen ist die Gehaltsverhandlung ein unangenehmes und oft frustrierendes Thema. Trotz nachweisbarer guter Leistung und höherer Verantwortlichkeiten bleibt die erhoffte Gehaltserhöhung im eigenen Unternehmen häufig aus. Doch erstaunlicherweise erzielen viele Beschäftigte oft eine deutlich höhere Gehaltssteigerung, wenn sie den Arbeitgeber wechseln. Diese Beobachtung ist kein Zufall und lässt sich systematisch erklären. Wer die zugrundeliegenden Mechanismen versteht, kann daraus Vorteile für die eigene Karriereplanung ziehen.
Ein wesentlicher Grund dafür liegt im Konzept von BATNA, dem Best Alternative To a Negotiated Agreement. Dieser Begriff stammt aus der Verhandlungsführung und beschreibt die beste Alternative, die eine Verhandlungspartei hat, falls eine Einigung scheitert. Im Arbeitskontext bedeutet das: Wie gut steht ein Arbeitgeber da, wenn er einem Mitarbeiter eine Gehaltserhöhung verweigert? Und wie gut steht der Arbeitnehmer da, wenn er die Forderung stellt? Wenn der Arbeitgeber nicht darauf angewiesen ist, den Mitarbeiter zu halten, wird er vermutlich zögern, die Gehaltsforderungen zu erfüllen. Innerhalb eines bestehenden Arbeitsverhältnisses ist das BATNA des Arbeitgebers oft günstig. Der Verbleib eines erfahrenen Mitarbeiters sichert Kontinuität und reduziert Kosten für Recruiting und Einarbeitung neuer Kräfte.
Gleichzeitig scheuen viele Arbeitnehmer vor einem Wechsel zurück, weil sie Sicherheit und bekannte Strukturen schätzen. Dieses Abwägen von Risiko und Sicherheit ist das, was der Autor als sogenannten „Job-Security-Tax“ beschreibt – einen Preis, den Arbeitnehmer für die Sicherheit eines festen Arbeitsplatzes zahlen, der sich in langsameren Gehaltssteigerungen ausdrückt. Darüber hinaus gelten innerhalb von Unternehmen häufig feste Regeln und Prozesse für Gehaltserhöhungen. Vorgaben wie Mindestbeschäftigungsdauer, Maximalerhöhungen innerhalb eines Zeitraums oder interne Gehaltsvergleiche mit Kollegen wirken wie bürokratische Hürden, die individuelle Leistung und Marktwert oft nur unzureichend berücksichtigen. Diese Regeln sind nicht zufällig, sondern dienen auch dem Unternehmen dazu, Kosten zu kontrollieren.
Selbst wenn Vorgesetzte einzelne Mitarbeiter wertschätzen, sind sie als Teil der Organisation oft durch festgelegte „Firmenpolitik“ gebunden. Dagegen ist eine Gehaltsverhandlung bei einem neuen Arbeitgeber eine ganz andere Situation. Hier vergleicht das Unternehmen den Kandidaten mit anderen möglichen Bewerbern. Das BATNA des Unternehmens ist, jemanden anderen mit vergleichbaren Fähigkeiten zu finden, was die Verhandlungsposition des Bewerbers deutlich verbessert. Unternehmen sind in der Regel bereit, attraktivere Angebote zu machen, um qualifizierte Talente zu gewinnen.
Für Bewerber eröffnen sich dadurch bessere Chancen, ihr Gehalt marktgerecht oder sogar darüber hinaus anzupassen. Selbständige und Freelancer profitieren von ähnlichen Mechanismen. Sie verhandeln meist Verträge, wobei ihr Honorar direkt an den wahrgenommenen Wert ihrer Leistung gekoppelt ist. Für Selbständige gilt es, sich richtig zu positionieren und den Marktwert nicht zu unterschätzen. Viele unterschätzen anfänglich, dass sie als Unternehmer inklusive zusätzlicher Kosten wie Steuern, Versicherungen und Ausfallzeiten deutlich mehr Einnahmen generieren müssen als im Angestelltenverhältnis, um vergleichbare Nettoverdienste zu erzielen.
Die Kalkulation der richtigen Stundensätze oder Tagessätze ist dabei essentiell. Für Angestellte kann es daher hilfreich sein, sich mit den Realitäten und Anforderungen des Marktes auseinanderzusetzen und zu verstehen, welche Rolle Jobwechsel dabei spielen. Wer langfristig an einem einzigen Arbeitsplatz bleibt, bezahlt einen Preis in Form geringerer Gehaltszuwächse. Das muss nicht unbedingt bedeuten, dass alle sofort kündigen sollten. Vielmehr kann dieses Wissen dazu anregen, die eigene berufliche Situation regelmäßig zu hinterfragen und gegebenenfalls rechtzeitig neue Chancen zu ergreifen.
Es gilt auch zu bedenken, dass es nicht nur auf den Gehaltsaspekt ankommt. Ein neuer Job bringt neben einer oft besseren Bezahlung auch neue Herausforderungen, Lernmöglichkeiten und Netzwerke. Diese Faktoren tragen langfristig zur persönlichen und beruflichen Weiterentwicklung bei und können die Karriere insgesamt fördern. Andererseits bieten unbefristete, festangestellte Positionen eine klare finanzielle Planbarkeit und Sicherheit. Einige Menschen schätzen diese Stabilität, insbesondere wenn sie familiäre Verpflichtungen oder andere feste Bindungen haben.
Dennoch ist es auch für diese Gruppe ratsam, eine finanzielle Reserve aufzubauen, die einen möglichen Jobwechsel erleichtert. Der Aufbau eines Notfallfonds und ein breit gefächertes soziales Netzwerk sind wichtige Instrumente, um die Abhängigkeit vom aktuellen Arbeitgeber zu reduzieren und die eigene Verhandlungsposition zu stärken. Das Bewusstsein über den „Job-Security-Tax“ macht deutlich, dass kein Arbeitgeber freiwillig Gehaltssteigerungen gewährt, die ihn schlechter stellen als seine beste Alternative ist. Für Arbeitnehmer bedeutet das, dass das Hervorheben des eigenen Marktwertes und die Bereitschaft, auch einen Wechsel in Erwägung zu ziehen, entscheidende Verhandlungsmittel sein können. Ohne eine echte Alternative ist die Verhandlungsposition vergleichsweise schwach.
In der Praxis funktioniert Gehaltsverhandlung deshalb am besten, wenn Mitarbeiter neben der internen Anerkennung auch Angebote oder potenzielle Alternativen vorweisen können. Dabei sollte Professionalität und Sorgfalt an erster Stelle stehen – Drohstrategien oder Ultimaten schaden meist eher als sie nutzen. Stattdessen ist eine fundierte Vorbereitung mit Informationen über vergleichbare Positionen, Gehälter am Markt und den eigenen Leistungsnachweisen unbezahlbar. Ein moderner Karriereweg muss nicht länger das klassische Szenario eines lebenslangen Angestellten durchlaufen. Immer mehr Menschen wählen hybride Lebensmodelle mit Phasen der Festanstellung und Phasen von selbständiger Tätigkeit oder Projektarbeit.
Auch für Unternehmen entsteht dadurch eine neue Dynamik. Flexible Arbeitsmodelle und projektbezogene Verträge ermöglichen es, Talente gezielt einzusetzen und fair zu entlohnen. Wer selbstbewusst seine Optionen kennt und geschickt verhandelt, kann davon profitieren. Zusammenfassend ist der entscheidende Vorteil eines Jobwechsels für eine Gehaltssteigerung, dass die Verhandlungsbasis anders gelagert ist. Statt dass Arbeitnehmer ihre Forderungen gegenüber dem bestehenden Arbeitgeber durchsetzen müssen, finden neue Verhandlungen auf Augenhöhe statt, bei denen der Vergleich mit anderen Bewerbern und deren Marktwert die zentrale Rolle spielen.
Unternehmen sind motiviert, attraktive Angebote zu machen, um Talente anzuziehen und sich einen Wettbewerbsvorteil zu sichern. Für Beschäftigte bedeutet das, dass sie sich nicht scheuen sollten, den Arbeitsmarkt aktiv zu beobachten und sich regelmäßig neu zu positionieren. Eine kontinuierliche Verbesserung der eigenen Kenntnisse, Fähigkeiten und Netzwerke erhöht die Chancen auf attraktive Angebote. Das Wissen um das Prinzip BATNA unterstützt dabei, realistisch und selbstbewusst in Gehaltsverhandlungen zu gehen und die eigene Karriere langfristig erfolgreich zu gestalten.