Die Jagd nach einer verlorenen Wasserstoffbombe wirkt auf den ersten Blick wie der Stoff eines spannenden Katasters oder eines Agententhrillers. Doch sie ist eine ernste Angelegenheit, bei der Leben, Umwelt und internationale Beziehungen auf dem Spiel stehen. Im Januar 1966 ereignete sich ein folgenschwerer Unfall über der spanischen Küste, der eine solche Suche auslöste. Zwei Boeing B-52G Bomber kollidierten in großer Höhe, Teil der streng geheimen Operation Chrome Dome, bei der nuklearbewaffnete Flugzeuge ständig über Europa kreisten, um im Ernstfall schnell einsatzbereit zu sein. Bei dieser Kollision gingen vier Wasserstoffbomben an Bord verloren.
Während drei Bomben auf spanischem Boden landeten, fiel eine in den Mittelmeer ab und blieb zunächst verschollen. Für die amerikanische Marine und wissenschaftliche Experten begann eine der komplexesten Suchoperationen des Kalten Krieges, die den Einsatz von über tausend Soldaten und Technikern erforderte und enorme Kosten mit sich brachte. Die unmittelbarste Herausforderung war, den genauen Ort des Bombenabsturzes im Meer herauszufinden. Die Suche auf dem Festland war aufwendiger und gefährlicher als gedacht, da zwei der Bomben beim Aufprall explodierten und radioaktive Stoffe wie Plutonium freisetzten, die das umliegende Gebiet kontaminierten. Der Boden rund um die Unfallstelle war durch jahrtausendelange Bergbautätigkeit zudem unübersichtlich mit Gruben und Schürfstellen durchzogen, die herkömmliche Suchmethoden erschwerten.
Noch gravierender war das Fehlen einer präzisen Position der vierten Bombe. Augenzeugenberichte, besonders die des ortsansässigen Fischers Francisco Simo Orts, lieferten wertvolle Hinweise, doch das Navy-Team lehnte diese zunächst ab und verließ sich lieber auf konventionelle Berechnungen zum Bombenabstieg. Die Suche im Meer wurde mit Tauchern, Sonar-Suchgeräten und Schiffen erfolglos tagelang fortgesetzt. Erst als man an die Möglichkeiten moderner Mathematik dachte, begann sich ein Durchbruch abzuzeichnen. John Piña Craven, der Leiter des speziellen Tiefsee- und Bergungsprojekts der US Navy, erkannte, dass traditionelle Methoden an die Grenzen stießen.
Craven, ein brillanter Ingenieur und Wissenschaftler mit Erfahrungen aus dem Kalten Krieg und der Atom-U-Boot-Technologie, wandte sich einer wissenschaftlichen Methode zu, die ihren Ursprung mehr als 250 Jahre zuvor hatte: dem Bayes'schen Theorem. Diese probabilistische Methode ermöglicht es, anhand neuer Informationen Wahrscheinlichkeiten für Ereignisse zu aktualisieren und dadurch bessere Vorhersagen zu treffen. Cravens Team erstellte eine detaillierte Karte des Meeresbodens vor der Küste Palomares und begann, systematische Szenarien für das Verhalten der Bombe beim Fall ins Wasser durchzuspielen. Dabei analysierten sie unterschiedlichste denkbare Zustände der zwei angebrachten Fallschirme, den möglichen Winkel des Auftreffens auf die Wasseroberfläche sowie andere entscheidende Variablen. Für jede dieser Optionen wurden Wahrscheinlichkeiten berechnet und in einem sogenannten „Wahrscheinlichkeits-Atlas“ abgebildet, der den Suchbereich nach Prioritäten strukturierte.
Dieses Vorgehen bedeutete einen Paradigmenwechsel in der Suchtechnik: Anstatt die Suche durch übersichtliche, aber wenig fundierte Annahmen zu leiten, basierte die Strategie ab jetzt auf einer mathematisch fundierten Bewertung aller verfügbaren Daten und Beobachtungen. Die Wissenschaftler ließen ihr Modell nach jeder vergeblichen Suche neu rechnen und verfeinerten so die Eingrenzung. Die Verwendung von Bayes’schem Denken war damals revolutionär in einem so operativen militärischen Kontext. Die Navy schickte die Forschungstauchboote Alvin und Aluminaut aus, doch die ersten Einsätze brachten keinen Erfolg. Allerdings erwies sich bald, dass Orts’ Angaben durch diese neue Sichtweise plötzlich hohe Glaubwürdigkeit erhalten hatten.
Bei einer weiteren Sonarrecherche an der von ihm genannten Stelle stießen Taucher auf ein vielversprechendes Objekt – eine Bombe, die mit einem Fallschirm bedeckt war. Die Bergung war jedoch keineswegs riskofrei und erforderte mehrere Einsätze mit Tauchern und einer ferngesteuerten Unterwasserplattform, die sich sogar in dem Fallschirm verfing. Schließlich gelang es, die Bombe aus 2.550 Fuß Tiefe an die Oberfläche zu bringen. Die erfolgreiche Bergung war nicht nur ein technisches Meisterwerk, sondern trug auch maßgeblich zur Sicherheit der Region bei und beruhigte politische Spannungen zwischen Spanien und den USA.
Doch die Anwendung von Bayes’schem Theorem durch Craven blieb nicht auf diesen Fall beschränkt. Nur wenige Jahre später wurde dieselbe Methodik angewandt, um das verschollene Atom-U-Boot USS Scorpion zu finden. Wieder gelang es, die Suche durch fortlaufende Wahrscheinlichkeitsanpassungen effizient zu gestalten und die Suche erfolgreich zu steuern. Jahrzehnte später profitierte auch die Suche nach dem Flugzeug Air France 447 von Cravens Ansatz. Nach zwei Jahren erfolgloser Suche half die statistische Bewertung aller verfügbaren Daten, die Position der Maschine genauer einzugrenzen, sodass endlich die Flugschreiber geborgen werden konnten.
Diese Erfolgsgeschichte zeigt eindrucksvoll, wie ein altes mathematisches Prinzip praktisch zum Leben erweckt wurde, um komplexe, reale Probleme zu lösen. Die Kombination aus akribischer Datensammlung, rigoroser Wahrscheinlichkeitstheorie und technischer Innovation kehrte die scheinbare Unmöglichkeit des Findens eines „Nadels im Heuhaufen“ in einen erstaunlichen Erfolg um. Die Erkenntnisse aus der Suche nach der verlorenen H-Bombe haben bis heute weitreichende Bedeutung für die Strategien bei der Suche nach vermissten Objekten – sei es auf See, in der Luft oder in anderen unzugänglichen Bereichen. Die Methoden zeigen, wie sich fachübergreifendes Denken, die Bereitschaft, Unkonventionelles auszuprobieren, und der Einsatz modernster Technik in kritischen Situationen auszahlen. Am Beispiel der Palomares-Operation wird klar, dass der Schlüssel zum Erfolg nicht nur in moderner Technik liegt, sondern vor allem in der klugen Nutzung von Informationen und Wahrscheinlichkeiten.