Vor etwa 3000 Jahren vollzog sich in der Bronzezeit ein entscheidender technologischer Fortschritt: Die Verwendung von Bronze – einer Legierung aus Kupfer und Zinn – breitete sich rapide in den Kulturen des östlichen Mittelmeerraums aus. Während Kupfer in der Antike vergleichsweise häufig vorkam, war Zinn eine äußerst seltene Ressource, nahezu unbekannt in der Nähe der großen bronzezeitlichen Zivilisationen. Diese Diskrepanz stellte Forscher lange vor das sogenannte „Zinnproblem“: Woher bezogen die damaligen Kulturen ihr Zinn für die Herstellung der kostbaren bronzezeitlichen Werkzeuge, Waffen und Schmuckstücke? Die Antwort liefert nun eine britisch geführte archäologische Forschungsgruppe, die nachwies, dass das Domizil einer der größten Zinnvorkommen Europas – Cornwall und Devon an Großbritanniens Südwestküste – bereits vor über 3000 Jahren aktiv in den Handel integriert war. Ihre Erkenntnisse stellen das bisherige Bild über die Handelsnetzwerke der Bronzezeit völlig auf den Kopf und zeigen, welch große Bedeutung die Zinnminen und -händler dieser Region für die damaligen hochentwickelten Gesellschaften gehabt haben müssen. Die Analyse erfolgte anhand von chemischer Spurenelementidentifikation, Blei-Isotopenanalysen und Untersuchungen des Zinngehalts, die an antiken Zinnbarren durchgeführt wurden, die in berühmten bronzezeitlichen Schiffswracks aus dem Mittelmeer gefunden wurden, unter anderem vor der Küste Israels.
Zusätzlich untersuchten die Forscher Erzproben und alte Metallartefakte aus Südwestengland sowie anderen Zinnquellen in Europa. Die Ergebnisse zeigten eindeutig, dass das Zinn aus Cornwall und Devon als Hauptquelle für die bronzezeitlichen Gesellschaften diente und über ein komplexes Netzwerk von Handelspartnern transportiert wurde. Dieses weitverzweigte Handelsnetzwerk zog sich entlang der Flüsse Frankreichs, über Sardinien, die zyprischen Inseln bis hin zur Levanteküste im heutigen Israel. Damit wird klar, dass bereits in einer Epoche, in der es weder Städte noch ein Schriftsystem in Cornwall gab, kleinbäuerliche Gemeinschaften in der Lage waren, ihre Rohstoffe über Tausende von Kilometern zu vermarkten und Teil eines hochentwickelten überregionalen Wirtschaftssystems zu sein. Während frühere Annahmen skeptisch gegenüberstanden, dass Großbritannien in der Bronzezeit eine aktiven Rolle im interkontinentalen Rohstoffhandel eingenommen haben könnte, zeigen diese Ergebnisse nicht nur die wirtschaftliche Bedeutung Cornwalls, sondern auch die Innovationskraft und Mobilität der damaligen Menschen.
Die kornischen Zinnvorkommen gehören zu den größten und zugänglichsten in Europa und werden seit der Antike intensiv abgebaut. Lange Zeit war es vor allem der griechische Schriftsteller Pytheas aus der Eisenzeit, der Cornwall als Zinnhandelsregion erwähnte. Dennoch hielt sich der Zweifel daran, dass die bronzezeitlichen Gemeinschaften dort eine vergleichbare Aktivität entfaltet hatten. Die aktuelle wissenschaftliche Arbeit beseitigt diese Zweifel nun endgültig. Forscher wie Dr.
Benjamin Roberts von der Universität Durham und der Geologe Alan Williams, der seit einem halben Jahrhundert das kornische Zinn erforscht, arbeiten aktuell an weiteren Ausgrabungen, unter anderem am berühmten St Michael's Mount in Cornwall. Dort vermuten sie eine der wichtigen prähistorischen Schmelz- und Handelszentren. Die archäologischen Befunde und die neue wissenschaftliche Methodik führen zu einem radikalen Umdenken darüber, wie weit verzweigt und intensiv bereits die Bronzezeit-Handelswege waren, mit Cornwall als einem bedeutenden Knotenpunkt. Die Bedeutung dieser Entdeckung erstreckt sich über die reine Metallkunde hinaus. Bronze war in der gesamten antiken Welt ein Symbol technologischen Fortschritts und gesellschaftlichen Wohlstands.
Der Handel mit Zinn war damit ein Motor für kulturelle und technologische Entwicklungen, der das Wachstum komplexer Gesellschaften erst ermöglichte. Cornwall und Devon nehmen durch die neuen Erkenntnisse einen zentralen Platz in der europäischen Geschichte ein, da hier das „Baumaterial“ für die Bronzeproduktion abgebaut und exportiert wurde. Diese Erkenntnis wirft auch neues Licht auf die Handelsbeziehungen, die damals zwischen den sogenannten „primitiven“ Gemeinschaften Großbritanniens und den hochentwickelten Kulturen des Mittelmeerraums bestanden. Trotz fehlender städtischer Strukturen, Schriftsystemen oder eines ausgeprägten politischen Zentralismus gelang es den Menschen in Cornwall, durch geschickte Handelsnetze und die Nutzung geografischer Vorteile ihr Zinn zum Markt zu bringen. Hier zeigt sich, dass auch kleinbäuerliche Gesellschaften in der Prähistorie eine bedeutende Rolle im europäischen Handel spielten.
Die Erforschung des Zinnexports Cornwalls fördert zudem unser Verständnis über die damaligen Transport- und Logistikfähigkeiten zutage. Die Zinnbarren gelangten nicht auf direktem Weg ins Mittelmeer, sondern wurden entlang der Flüsse Frankreichs, über Inselstationen im Mittelmeer weitergeleitet. Diese enge Verzahnung von Wasserwegen und Handelsplätzen zeigt ein ausgeklügeltes System, das sich über Kontinente erstreckte und eine frühe Form der Globalisierung darstellte. Darüber hinaus eröffnet die Analyse der Zinnverteilung und Herkunft neue Perspektiven für die Archäologie und Geschichtsschreibung. Sie ermöglicht es, Handelsrouten zu rekonstruieren und die Vernetzung prähistorischer Gemeinschaften besser zu verstehen.
Zudem wirft sie Fragen zu gesellschaftlichen Organisationen auf, die solche Handelsaktivitäten erlaubt oder gar gefördert haben. Die hohe Frequenz und das große Volumen der hergestellten und gehandelten Zinnmengen lassen vermuten, dass die Rohstoffgewinnung und der Export gut organisiert und von spezialisierten Gemeinschaften betrieben wurden. Die neuen Funde zeigen auch, dass die Ressourcen Cornwalls keine lokalen, sondern europäische Bedeutung besaßen. Das macht Cornwall vor 3000 Jahren zu einem wichtigen Akteur im kulturellen und wirtschaftlichen Geflecht der Bronzezeit. Damit widersprechen die Ergebnisse hiesigen Vorstellungen, Cornwall sei eine isolierte Randregion gewesen.
Vielmehr war der Südwesten Englands aktiv mit dem Mittelmeerraum verbunden und Teil eines überregionalen Handelsnetzwerks. Die Entdeckung des weitreichenden Zinnhandels aus Cornwall zwingt auch zu einer Neubewertung der technologischen Fähigkeiten der damaligen Gesellschaften. Die Arbeitsteilung zwischen den Völkern, die den Rohstoff abbauten, und jenen, die ihn für Waffen, Werkzeuge und Schmuck weiterverarbeiteten, war hochkomplex und erforderte weitläufige Kontakte. Der internationale Handel wurde somit zum Kern technologischer Innovation und wirtschaftlicher Entwicklung in der Bronzezeit. Die wissenschaftliche Gemeinschaft wird durch diese Erkenntnis derzeit stark herausgefordert und angeregt, etablierte Theorien über den Warenaustausch und die Vernetzung bronzezeitlicher Kulturen zu überdenken.