Ribonukleinsäure, kurz RNA, ist ein zentrales Molekül des Lebens, das traditionell vor allem als Vermittler der genetischen Information von DNA zu den Zellproteinfabriken bekannt ist. Diese klassische Rolle als Informationsüberträger ist jedoch nur ein Teil der komplexen biologischen Bedeutung von RNA. Neben dieser fundamental wichtigen Funktion existieren zahlreiche RNA-Moleküle, die keine Proteine kodieren und eine Vielzahl weiterer Aufgaben in der Zelle erfüllen, beispielsweise in der Genregulation oder als Katalysatoren biochemischer Reaktionen. Trotz ihrer essenziellen Bedeutung sind viele der Funktionen dieser sogenannten nicht-kodierenden RNAs noch nicht vollständig verstanden. Die Forschung steht daher vor der spannenden Herausforderung, die vielfältigen Einsatzbereiche der RNA zu ergründen und deren potenzielle Anwendung zu erschließen.
Eine aktuelle Entdeckung eines Forscherteams um die Stanford University, das SLAC National Accelerator Laboratory und die National Institutes of Health hat nun ein neues Kapitel in der RNA-Forschung aufgeschlagen. Die Wissenschaftler identifizierten eine bislang unbekannte Klasse von großen, komplexen RNA-Strukturen, die ganz ohne die ansonsten erforderliche Unterstützung von Proteinen auskommen. Diese groß angelegten RNA-Komplexe überraschten durch ihre multifunktionale, mehrsträngige Gestaltung und widersprechen bisherigen Annahmen über die strukturelle Organisation von RNA-Molekülen. Die Forschung konzentrierte sich auf drei nicht-kodierende RNA-Moleküle, die in Bakterienzellen besonders häufig produziert werden. Um ihre Rolle besser zu verstehen, analysierten die Wissenschaftler ihre dreidimensionalen Strukturen mithilfe der Kryo-Elektronenmikroskopie (cryoEM), einer Methode, die hochaufgelöste Abbildungen biologischer Moleküle ermöglicht.
Entgegen der Erwartungen, dass jede RNA als einzelne, kompakt gefaltete Kette vorliegt, zeigten die Bilder komplexe Verbünde wahrlich üppiger RNA-Strukturen, die aus mehreren identischen Strängen zusammengesetzt sind und dabei vollkommen auf Proteine als Stütze verzichten. Die beobachteten Strukturen unterschieden sich deutlich. Zwei der RNA-Moleküle formten käfigartige Gebilde aus acht beziehungsweise vierzehn Strängen. Diese geometrisch wohlgeordneten Hüllen bieten Potenzial, als molekulare Container für den Transport oder die eingeschlossene Speicherung von Substanzen zu dienen. Die dritte RNA zeigte eine faszinierende Formation, bei der sich zwei Stränge zu einer diamantähnlichen Gerüststruktur „küssen“ – eine Metapher für eine spezifische Interaktion, die sich unter bestimmten Bedingungen verfestigt und in anderen wieder auflösen kann.
Solche sensorenartigen Eigenschaften sind für die Zelle möglicherweise von großem Nutzen, um Umweltsignale oder interne Zustände durch strukturelle Veränderungen der RNA zu detektieren. Das Fehlen von Proteinen in diesen komplexen RNA-Assemblies wirft neue Fragen darüber auf, wie RNA-Moleküle in lebenden Organismen zusammengesetzt werden können. Während bisherige Forschungsdaten aus Datenbanken wie dem Protein Data Bank überwiegend proteingestützte Strukturen dokumentieren, stellen diese Erkenntnisse eine klare Erweiterung des molekularen Verständnisses dar. Sie verdeutlichen, dass RNA selbst in der Lage ist, stabile, funktionelle Komplexe zu bilden, was enorme Auswirkungen für die Erforschung von RNA-basierten Prozessen hat. Neben dem grundlegenden biologischen Interesse verspricht diese Entdeckung auch neue technologische Anwendungen.
Die Fähigkeit, strukturstabile, proteinfreie RNA-Komplexe zu konstruieren, könnte innovative Ansätze für die Herstellung biomedizinischer Werkzeuge ermöglichen. Beispielsweise könnten RNA-Käfige als gezielte Transportvehikel für Medikamente dienen oder als intelligente Sensoren zur Visualisierung und Überwachung biochemischer Prozesse in lebenden Zellen eingesetzt werden. Die Forschung könnte damit auch zur Entwicklung neuer RNA-basierter Therapeutika beitragen und die gezielte Medikamentenabgabe revolutionieren. Aktuell stehen die Forscher vor der Herausforderung, die natürliche Funktion dieser großen RNA-Strukturen im Zellkontext zu klären. Zwar ist bekannt, dass Bakterienzellen ohne die drei untersuchten RNAs überleben können, was ihre essentielle Funktion infrage stellt.
Doch die ungewöhnlichen Strukturen legen nahe, dass sie möglicherweise als molekulare Käfige oder Sensoren wirken – ihre Rolle könnte also subtiler und an spezifische zelluläre Bedingungen gekoppelt sein. Um dies zu testen, planen die Wissenschaftler weitere Experimente zur Beobachtung der Interaktion dieser RNA-Komplexe mit anderen Molekülen in der Zelle. Die neue Erkenntnis erweitert das Wissen um RNA-Faltung und -Assemblierung wesentlich. Sie zeigt, dass RNA-Sequenzen sehr unterschiedliche und komplexe dreidimensionale Strukturen annehmen können. Dieses Wissen ist auch für die Bioinformatik und Strukturbiologie von Bedeutung, da es die Grundlage dafür schafft, präzisere Methoden zur Vorhersage der RNA-Struktur zu entwickeln – eine Fähigkeit, die bislang begrenzt ist.
Eine bessere Vorhersage der RNA-Faltung wird Forschern und Biotechnologen helfen, maßgeschneiderte RNA-Strukturen zu designen und so gezielt Anwendungen in der Medizin und Forschung zu realisieren. Rachael Kretsch, die Erstautorin der Studie, betont, dass die gewonnenen Daten eine immense Hilfe bei der Verbesserung der RNA-Faltungsmodelle darstellen. Neben einer tieferen biologischen Einsicht steht die Möglichkeit im Vordergrund, RNA-Moleküle mit definierten dreidimensionalen Strukturen künstlich herzustellen und für spezifische Aufgaben einzusetzen. Dieses Potenzial könnte neue Wege in der Entwicklung von Diagnostik, Therapeutika und Nanotechnologie eröffnen. Die Entdeckung ist außerdem ein Beleg für die Leistungsfähigkeit moderner kryogener Elektronenmikroskopie als Werkzeug der molekularen Biologie.
Mit cryoEM gelangen Aufnahmen von Molekülen in ihrem nahezu natürlichen Zustand ohne die Notwendigkeit der Kristallisation, was besonders für selten untersuchte RNAs von unschätzbarem Wert ist. Diese Technologie ermöglicht fundamentale neue Einblicke in Strukturen, die zuvor undenkbar waren, und wird sicherlich weiterhin entscheidend zur Entschlüsselung komplexer biomolekularer Zusammenhänge beitragen. Die Studie zur Entdeckung großer proteinfreier RNA-Strukturen, veröffentlicht im renommierten Fachjournal Nature im Jahr 2025, markiert einen wichtigen Fortschritt in der RNA-Forschung. Sie sorgt für Aufsehen und weckt Hoffnungen, dass das Verständnis über die vielfältige Rolle von RNA in der Zelle in den kommenden Jahren rasch wachsen wird. Gleichzeitig setzt die Studie neue Maßstäbe und öffnet Türen für innovative Ansätze, um RNA als Baustein für neue biotechnologische und medizinische Anwendungen zu nutzen.
Abschließend lässt sich festhalten, dass diese Entdeckung traditionelle Vorstellungen über RNA neu definiert. Die Fähigkeit, komplexe, proteinfreie RNA-Käfige und -Sensoren zu bilden, erweitert nicht nur das biologische Wissen, sondern ebnet zugleich neue Wege für angewandte Wissenschaften. Ob in der gezielten Medikamentenabgabe, der molekularen Diagnostik oder der synthetischen Biologie – die Designmöglichkeiten von RNA-Strukturen könnten bald eine Schlüsselrolle einnehmen. Die Forschung zu diesen faszinierenden RNA-Molekülen steht somit erst am Anfang, doch ihre Bedeutung für Wissenschaft und Gesellschaft könnte immens sein.